Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Ein Blick aus dem All

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Ein Blick aus dem All

Es war an einem herbstlichen Nachmittag im Zoo, als Lindemann einen Blinden betrachtete, weil der Tiere betrachtete. Sinnigerweise hatte der sich das Elefantengehege ausgesucht und schwenkte absichtsvoll ein trockenes Brötchen. Das fand Interesse bei einem der Dickhäuter und der senkte und hob seinen Rüssel über den Händen des Blinden wie eine Angel. Der Mann spürte die Nähe des Lebewesens und fragte in Lindemanns Richtung: "Was ist das?" Lindemann antwortete hilfreich und sofort: "Ein Elefant."
Dem Blinden schien es zu gefallen. Er ließ sich das Brötchen aus der Hand nehmen und betatschte bei der Gelegenheit den Rüssel des Koloss. "Jetzt weiß ich bescheid", meinte er schließlich mit Genugtuung. "Elefanten sehen aus wie Schlangen, sie sind nur etwas rauher."
Lindemann berücksichtigte den hohen Grad der Behinderung des Mannes und wagte keinen Widerspruch. So ganz falsch war die Einschätzung schließlich auch nicht, redete er sich ein. Der Elefantenrüssel ähnelt tatsächlich einer Schlange. Nur hängt an dem Rüssel noch ein tonnenschwerer Rest, der die Sache etwas komplizierter macht und die nahegelegene Lösung schließlich als falsch erweist.
Am Abend sah sich Lindemann den Sternenhimmel an und stellte sich vor, von irgendwo dort schaute jemand zurück. Vielleicht hatte der gerade Linden im Visier. Was würde er sehen? Den Berg? Möglich. Das Ihme-Zentrum? Ganz sicher. Er würde das Ihme-Zentrum sehen und seiner Frau, die vielleicht gerade ein Kreuzworträtsel löste sagen, sieh mal, Schatz, der Beton-Klotz dort, das ist Linden. Die Frau würde ihr Kreuzworträtsel verwirrt beiseite legen und sinnieren: Die Erdlinge sind schon komisch, bauen sich für ihr Glück einen großen Kasten, damit sie auch in einigen Lichtjahren Entfernung noch erkennbar sind. Beim Gedanken daran wurde Lindemann unbehaglich, entwickelte einen leichten Hang zum Unwirschen und wog ab, ob er sich das Ihme-Zentrum einfach wegdenken oder, das wäre auch eine Möglichkeit, die Existenz von Außerirdischen kategorisch bestreiten sollte. Konsequent weitergedacht, wusste er, könnte er auch die Existenz von Menschen außerhalb Lindens bestreiten, was dem friedlichen Zusammenleben nur zuträglich wäre. Andererseits war diese Denkweise eine bedingungslose Kapitulation vor der Existenz des Ihme-Zentrums, das Lindemann jedenfalls weder wegdenken noch wegbewegen konnte. Und selbst die bevorstehende Namensänderung in Lindenpark änderte bestenfalls eine winzige Nuance zwischen Wenig und Gar nichts.
Man müsste, dachte Lindemann, den Außerirdischen irgend etwas anderes bedeutendes in Linden zeigen, um ihre Blicke vom Ihme-Zentrum abzulenken. Vielleicht könnte man eine Riesenhüpfburg auf dem Küchengarten errichten, auf der alle 40.000 Lindener Einwohner gleichzeitig aktiv würden. Lindemann dachte an vieles - nur an eines nicht: Was nämlich gleichzeitig runde 60 Lichtjahre entfernt passierte. Da sprang ein grünes Männchen wie von der Tarantel gestochen von seiner Sitzfeder vor seiner Infoscheibe. Das war schon deshalb bemerkenswert, weil es außerhalb unseres Planeten keine nachgewiesenen Bestände von Taranteln gibt. Das Männchen schrie so laut, dass sich sein Brustkorb auf doppeltes Normalmaß blähte. Nun ist die Sprache grüner Männchen nur schwer zu übersetzen, aber wir versuchen es dennoch in möglichst einfacher Form.
"Unser Beobachtungsobjekt in Linden denkt", schrie das Männchen also in etwa sinngemäß. "Es denkt zwei Gedanken pro fünfzig Atemzüge. Das hat es überhaupt noch nie gegeben."
"Und was denkt es", wollte einer wissen, der möglicherweise Chef der grünen Männchen war.
"Er will dem betonierten Tarantel-Bau Konkurrenz machen und für seinesgleichen eine Hüpfburg bauen."
"Bei allen grünen Frauchen und grünen Männchen", stöhnte der Chef. "Die brauchen noch mal eine Million Flüge um ihre Sonne um zu begreifen, dass es sich nicht lohnt, den Fertigkeiten eines Grashüpfers nachzueifern. Der Grashüpfer ist nicht das Ziel der Evolution. Ansonsten", nun legte sich der Chef behaglich in seine Liegefeder, "ansonsten werden sie uns in dieser nächsten Million Flüge in Ruhe lassen. Mehr kann man als kleines grünes Männchen eigentlich nicht erwarten."

von Hans-Jörg Hennecke

Inventur

Es war Zeit für eine Inventur, hatte Stroganow in einem Anfall von Sadismus beschlossen. Also saßen wir gemeinsam mit Bülent Mittelschmidt im Hinterzimmer des Kiosks und zählten Salinos, als es ans Fenster pochte. „JA??!!?!“, raunzte Stroganow, „wer stört?“ „Ich bin’s, das Glück“, sagte das Ding vor dem Fenster. Mittelschmidt und ich sahen von unserem Lakritzberg auf und blickten verwundert hinaus, aber Stroganow sah nicht mal hin. „Hast du Kippen bei?“, wollte er wissen, und das Glück schwenkte eine Packung NIL vor unseren Augen. „Lass ihn doch rein“, schlug ich vor. „Ihn?“, überlegte Mittelschmidt, „für mich ist das Glück immer eine Frau gewesen.“ „Schwer zu sagen“, überlegte Stroganow, „das Ding durchläuft Metamorphosen.“
Das Glück trat ein, wir schwiegen ein paar Tage vor uns hin, und der Salino-Haufen wurde etwas kleiner. Unvermittelt brach Stroganow plötzlich das Schweigen: „Und sonst?“, fragte er das Glück. „Naja. Muss ja“, seufzte das Glück, zündete sich eine neue Zigarette an der alten an und begann wieder zu schweigen. Mittlerweile war ich mir sicher, dass das Glück keine Frau sein konnte. Vielleicht ein Insekt, eine Heuschrecke zum Beispiel. Rauchten Heuschrecken Kette? Ich war nicht überzeugt von meiner Idee. Das Glück begann, mit Stroganows LEGO-Steinen das Ihmezentrum nachzubauen. „Gar nicht schlecht“, sagte Mittelschmidt, „so von oben betrachtet. Sehr farbecht.“ Stroganow warf einen kritischen Blick auf das Gebilde. „Du musst da unten ein paar Lücken lassen“, bemerkte er, „sonst wirkt das nicht echt.“ „Nichts, was aus LEGO ist, ist echt, du Dorftrottel“, sagte das Glück und suchte nach einem Doppelsechser. „Muss ich mir das bieten lassen?“, fragte Stroganow in die Runde. Mittelschmidt und ich schüttelten unser schütteres Haupthaar mit samt den Köpfen daran. Schweigende Eindringlinge konnten wir gar nicht verkraften. Wir wollten Unterhaltung, Spaß und Spannung. Das hier bot nichts davon. Stroganow gab dem Glück einen Tritt in den Hintern, und dann saß es draußen auf der Straße. Wir bestiegen wieder unseren Salino-Berg. „Was war das denn?“, fragte ich. „Das war das Glück“, sagte Stroganow. „Wie langweilig“, befand Mittelschmidt, und das war es dann auch gewesen.

von Kersten Flenter

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