Lindemann & Stroganow

Nur die Wurst hat zwei / Stroganow wird esoterisch

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Nur die Wurst hat zwei

Von Hans-Jörg Hennecke

Lindemann schaute in die weiße Porzellanschüssel.Die Kälte des Materials beruhigte seine Nerven. Deutlich sah er gelbliches Wasser. War es Wasser? Alles roch nach Chemikalien, keimfrei, schleimhautreizend, Reinigungsmittel derberer Art, ohne Pardon für die Umwelt. Durch die Wand röhrte ein dumpfes Fließgeräusch, verstummte nach Sekunden. Lindemann spürte leichtes Sodbrennen zwischen Speiseröhre und Gaumen. Natron, dagegen könnte nur Natron helfen. Lindemann hatte seine gesicherte Lebenserfahrung, aber das Natron war in der Küche und die Küche war sonstwo, weitab vom Klo-Geschirr. Das Wasser im Ablauf kräuselte sich ohne erkennbaren Grund. Lebten da unten Ratten? Sie sollen zuweilen über die Rohre bis in Wohnungen gekrochen sein. Aber das war hoffentlich nur ein besonders ekelerregendes Gerücht. Der Gedanke verhalf Lindemann zur körperlichen Trennung von dem Verdorbenen. Es verließ ihn mit eruptiver Gewalt.Die Wurst war schlecht, Gammelfleisch hatte er wohl gegessen, betrogen von geldgierigen Tierquälern. Man müsste Vegetarier werden,war Lindemanns Befürchtung, mit der er sich vom persönlichen Elend abzulenken suchte.Acht Bier hatte er auch getrunken, aber die waren über den Verdacht erhaben. Deutsches Bier wird immer noch nach dem fünfhundertjährigen Reinheitsgebot gebraut. Ein Reinheitsgebot für Wurst gab es nie. Wie entlarvend für eine Gesellschaft, die sich immer wieder als ungenießbar erwies, wenn es ums Geld ging.
Plötzlich stand Stokelfranz in der Badezimmer- Tür. „Bei ihnen war offen. Sperrangelweit. Haben Sie Probleme?“ „Und ob“, bekannte Lindemann.
Eine weitere Stimme mischte sich ein. „Herr Lindemann, Ihre Tür steht offen“. Auch Oma Kasten aus dem ersten Stock hatte den Ort des Geschehens erreicht und fuchtelte mit ihrer Gehstütze. „Was machen Sie da im Klo? Ist es verstopft?“ „Ich war verstopft“, bekannte Lindemann.
Oma Kasten schüttelte den Kopf. „Normalerweise setzt man sich dann aber auf die Brille. Oder habe ich da etwas versäumt?“ „Jedenfalls lässt man die Wohnungstür nicht einfach offen“, tadelte Stokelfranz. „Da haben Sie recht“, benotete Oma Kasten. „Wenn es pressiert, schon“, entschuldigte sich Lindemann. Oma Kasten nickte. „Ja, das stimmt.“ Stokelfranz war empört. „Sie können uns doch nicht beiden Recht geben…“ Oma Kasten war versöhnlerisch. „Da haben Sie auch Recht.“ Lindemann kam bleich wie die Wand aus seiner Klo-Schüssel. „Alles hat ein Ende“, freute sich Oma Kasten. „Nur die Wurst hat zwei“, ergänzte er missmutig.

Stroganow wird esoterisch

von Kersten Flenter

Sag mal, du bist doch auch als Sprecher unterwegs“, flötete Stroganow ungewöhnlich freundlich, und ich hörte die Nachtigallenarmeen trappsen. „Zuweilen“, gestand ich. „Prima“, sagte Stroganow, „ich hätte da nen Job für dich.“ „Was heißt denn ‚ich hätte‘? Hast du oder hast du nicht?“ „Vielleicht kommt es auf dein Honorar an“, mischte Mittelschmidt sich ein. „Papalapapp“, erklärte Stroganow, „erstens verstehst DU überhaupt nix von Honoraren und zweitens wird mein zuverlässiger Freund Flenter“ (er legte kameradschaftlich den Arm auf meine Schulter) „selbstredend kein Geld für einen Freundschaftsdienst erwarten, erst recht nicht, wenn er gratis an einer revolutionären Geschäftsidee teilhaben kann.“ Tripptrapp, machten die Nachtigallen. Ich seufzte. „Also, worum geht’s diesmal?“ „Pass auf, wir nutzen die allenthalben vorhandene Orientierungslosigkeit aus. Ich habe ein Navigationssystem erfunden.“ „Gibt es schon“, wusste Mittelschmidt. „Dies hier nicht: es handelt sich um ein Esoterik-Navi.“ „Häh?!“, machten Mittelschmidt und ich und ich und Mittelschmidt. Stroganow erklärte. „Pass auf, du kennst doch die immer gleichen Floskeln, die aus diesen Geräten kommen, etwa: „Beachten Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung“ oder „Nach 900 Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht. Und jetzt …“ „Ach du scheiße“, sagte ich. Ich ahnte was kam, als mir Stroganow den Zettel mit den Texten für sein Esoterik-Navi herüberschob. Entschleunigen Sie! hieß es da im Falle einer Geschwindigkeitsübertretung, und: Fahren Sie einfach irgendwo hin – der Weg ist das Ziel, wenn ein Abbiegen bevor stand.
Nun, bei Stroganow half die Frage, ob er noch bei Verstand war, kaum weiter, und ich ließ mich auf seine Gedanken ein. „Wer ist die Zielgruppe dieses künftigen Verkaufsschlagers?“, fragte ich. „Ist doch klar“, antwortete Mittelschmidt, „die Leute aus der List und …“ „Nee, Politiker“, fiel Stroganow ihm ins Wort. Wirtschaftswissenschaftler. Mitarbeiter von Ratingagenturen.“ „Das sind doch keine Esoteriker, das sind Rationalisten.“ „Quatsch“, sagte Stroganow, „das ist ja der große Irrtum, der immer verbreitet wird. Diese Leute arbeiten in Sphären von Spekulation, Manipulation und Glauben. Da ist nichts rational, geschweige denn vernünftig.“ „Dann sind es aber keine Esoteriker“, wusste ich es besser, „denn Esoterik kommt aus dem Griechischen und meint ursprünglich eine philosophische Lehre, die nur einem begrenzten, inneren Personenkreis zugänglich ist.“ „Ich finde, das kommt hin“, sagte Mittelschmidt, „was diese Leute glauben, ahnt kein Mensch von hinreichendem Verstand.“ Stroganow zitierte Upton Sinclair: „Es ist schwer, einen Menschen zu bewegen, etwas zu verstehen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“ „Ah“, sagte Mittelschmidt, „das erklärt mein hohes Verstandesniveau. Ich hab ja kein Einkommen und bin deshalb völlig unabhängig.“ Womit wir bewiesen hätten, dass Geld nicht frei, sondern abhängig macht. Oder? Jedenfalls hatte mich Stroganow jetzt davon überzeugt, dass ich ihm sein Esoterik-Navi für lau besprach. So ein Fuchs.

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