Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Was machen wir mit den Alten

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

von Hans-Jörg Hennecke

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.“

Da hat sich der große Goethe aber mal mächtig geirrt, behauptet Lindemann. „In Ehren ergraut“ – wie die Sonntagsredner gemeinhin phrasieren – rennt die Hälfte unserer Landsleute durch die Gegend. Und das ist eben keine Theorie, sondern gängige Praxis.
Die Grauesten unter ihnen sind schon seit Jugendjahren bei der Farbe. Als Feldgraue trugen sie seinerzeit einiges Grauen quer durch Europa. Dennoch hat es sich keineswegs durchgesetzt, die Grauen und das Grauen als ein und dasselbe zu betrachten. Ganz im Gegenteil üben die Grauen speziell auf die Jüngsten gleichbleibende Anziehungskraft aus. Sie haben immerhin Zeit und manche auch Geld, das in kleiner Münze dann schon mal an den Nachwuchs des Nachwuchses ausgeteilt wird. Ihre Vorbildwirkung zeitigt dabei dramatische Folgen. Wenn die Enkel sehen, daß Oma den ganzen Tag Rollator fährt und dabei mindestens zehn verschiedene Bonbonsorten lutscht, die sie schalkhaft Pillen nennt, muß man sich nicht wundern, daß Deutschlands Jugend den Arsch nicht hochkriegt. Andererseits lassen sich die Alten kaum in soziale Strukturen einbinden. Sollen sie mal etwas Vernünftiges tun, also beispielsweise Kinder hüten oder Unkraut jäten, dann haben sie es im Rücken, manche auch in der Hüfte, andere in den Beinen. Ihr Ideenreichtum im medizinischen Bereich ist grenzenlos.
Andere Gegenden - andere Probleme. Im Nachbarort Limmer scheint man sich vor dreihundert Jahren geängstigt zu haben, dass der christliche Glaube an Auferstehung allzu bald in Erfüllung gehen könnte. Dort steht am Eingang des alten Friedhofs:

„Hier liget use leiwen Olen, Herr, lat se deck sin befohlen! Denn wenn se sollden wedder upstahn, Müßten wi alle von Hus und Hoff gahn.“

Aber Lindemann lebt in Linden, da ehrt man die „leiwen Olen“ im Rahmen des Zumutbaren. Nur in ganz schwarzen Stunden der Depression kommen ihm kulturhistorische Gedanken.
Lindemann weiß selbstverständlich, dass es Probleme mit den Alten immer und überall gegeben hat. Rückständige Kulturen neigten zu eigenwilligen Lösungen: die Alten wurden aufgegessen oder ohne Gehhilfe und Brille in einem kargen Gebirge ausgesetzt. Ganz Verstockten nahm man dann noch das Hörrohr, damit das Heulen der Wölfe die vordergründige Absicht der Rentenverweigerer nicht frühzeitig offenbarte. Was das mit Linden zu tun hat, fragt sich Lindemann manchmal. Und er kommt zu dem Schluss: gar nichts. Auf dem Lindener Berg heulen seit Jahrhunderten keine Wölfe.

von Kersten Flenter

Neulich mittags saß ich mit Stroganow und Bülent Mittelschmidt im „Die paar Ungarn“ und feierte den 1408. Tag meiner Befreiung aus der Festanstellung. Stroganow ging es nicht gut, er hatte die Nacht zuvor für Mittelschmidt Bewerbungen aus dem Internet runtergeladen und war entsprechend verkatert, also wollte er sich nur eine kleine Portion Essen bestellen und entschied sich, hierfür den Seniorenteller zu wählen. überrascht stellten wir fest, dass das Angebot an rentnermagengerechten Speisen seit unserem letzten Blick dafür anscheinend rasant zugenommen hatte. Statt der Miniportion Jägerschnitzel mit Salatgarnitur gab es allerhand vegetarische Kost und Fitnessmenues. „Wozu sollen sich denn die Senioren noch gesund ernähren?“, entfuhr es Mittelschmidt, aber Stroganow besänftigte ihn. „Niemand, mein ewiger Arbeitsmarktnachwuchs, ist heute gefragter als die Alten, sich für die Anforderungen des Erwerbslebens fit zu halten. Wir alle wollen die Auszahlung unserer privaten Altersvorsorge erleben, sind deshalb gezwungen, zumindest so alt zu werden, dass wir das Vertragsende dessen erleben, was wir niemals hätten abschließen müssen, wäre da nicht er Zwang der Versicherungsindustrie, möglichst alt zu werden, damit wir Verträge mit ihr über möglichst lange Laufzeiten abschließen können.“ „Häh!?“ fragte Mittelschmidt. „Häh?!“, fragte ich. „Häh, was!?“, wollte Stroganow wissen. „Mehr Licht“, sagte ich. „Mehr Bier“, antwortete Mittelschmidt. „Euer Unverständnis simplen Schachtelsätzen gegenüber zeigt nur eure geistige Unbeweglichkeit“, raunzte Stroganow, „eure Denkmurmel ist bereits verrentet. Wir müssen aber in Bewegung bleiben, um später einen Platz und Zeit für unsere sinnlosen Gespräche zu haben, wenn sie weiterhin solche bleiben sollen.“ „Schon klar“, sagte ich, „beweglich bleiben.“
Mobilität heißt das Zauberwort des 21. Jahrhunderts. Auch ein 66-jähriger Ingenieur, der nach 39 Jahren Festanstellung seine Stelle verloren hat, sollte bereit sein, für einen 1-Euro-Job täglich zwischen Linden und Bullerbü zu pendeln, das nennt man Zumutbarkeitsklausel und hält die Leute in Bewegung. Dies freut vor allem die Autoindustrie und die Deutsche Bahn. Solange wir es nicht geschafft haben, uns in Raumschiffen fortzubewegen, um den ganzen Schlamassel mal mit Abstand zu betrachten. Per Rollator durch die Galaxis. Weiß jemand die Frage für alle Antworten? „Wir sind die Jungs von der Rollator-Gang, wir haben alle abgehängt“, zitierte Stroganow einen Toten Hosen-Klassiker. Wie werden wir mal enden, dachte ich, als rüde Rentner, die sich beim Headbangen am Rollator festhalten, beim AC/DC-Konzert? Alt-Punks mit meterlangen Ohrlappen, in denen verrostete Sicherheitsnadeln hängen? Was würde die Zukunft für Leute wie uns bringen, die mit der Gewissheit aufgewachsen sind, keine Zukunft zu haben?
Auf dem Green Hills Memorial Park-Friedhof hoch über Los Angeles steht auf dem Grabstein eines verstorbenen Dichters: „Don’t try“ – „Lass es bleiben“. Ein ernst gemeinter Rat an alle, die versuchen, dies hier zu verstehen.

<-- zurück

Impressum / Datenschutz