Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Wo, verdammt nochmal, …

… ist schon wieder mein Schlüsselbund geblieben?
(Die großen Fragen der Menschheit, Teil 4)

von Kersten Flenter

Früher fürchteten die Gallier, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, heute fürchten sie eher die Nacktfotos der Ehefrau Sarkozys. Carla Bruni und Nicolas Sarkozy – das sind die Majestix und Gutemiene von heute. Und der grantelnde Fischverkäufer Verleihnix wird heute von so einem wie Stroganow verkörpert, vielleicht aber auch von Gott selbst. Wenn der uns den Himmel auf den Kopf schmeißt, ist das immerhin noch besser, als einen Fisch von Verleihnix an den Kopf zu bekommen oder einen guten Rat von Stroganow. Neben seinen diversen Handelsunternehmen in Sachen wohlfühliger Substanzen ist Stroganow ja bekanntlich auch als Heiler verwirrter Seelen unterwegs, antwortet auf Fragen, die niemand stellt, stellt Zusammenhänge her, wo keine sind und vertritt Meinungen, die niemand braucht. Das macht ihm nun mal Spaß, nicht nur in seiner unmittelbaren Umgebung, sondern auch auf der ganzen Welt.
Zum Beispiel ist Stroganow nach wie vor der Ansicht, der Einsturz des World Trade Centers sei nur ein böser Trick David Copperfields, der die Trennung von Claudia Schiffer nicht verkraftet habe. Da können wir uns nur freuen, dass Madonna und Guy Richie sich einvernehmlich gegen eine kleine Abfindung trennten, sonst müssten wir vielleicht damit rechnen, dass Madonna aus Rache wieder anfängt, in Kinofilmen mitzuspielen, was weitaus tiefere Schäden hinterließe als Mohammed Atta je vermochte. Der Wert einer Katastrophe bemisst sich nun mal nicht an der Zahl von Toten oder Verletzten, sondern an der medialen Aufmerksamkeit. Das ist im Großen so wie im Kleinen. Wie im Kosmos, so im Kiez. Auch hier bei uns zeigt sich doch, dass die Realität nichts anderes als die Summe angehäuften Schwindels ist. Handele so, dass die Maxime deiner eigenenVerblödung jederzeit auch Maxime einer allgemeinen Verblödung sein könnte, wusste schon Kant. Und der wusste noch, wo er steht. Kommt es auf unseren Standpunkt an, oder nur auf unsere Vorstellung? Wer bestimmt eigentlich über mein Leben?
„Das ist doch am Ende egal“, sagt Stroganow. „Das Prinzip bleibt gleich: Nichts geht mich etwas an, solange die Katze meines Nachbarn nicht auf meinen Fußabtreter kackt.“
„Häh?!“, wunderte ich mich.
„Anders gesagt: was Du nicht willst, das man Dir tu, das lässt Du auch in Ruh. Einfaches Prinzip. Kümmer Dich um nichts, dann wird sich auch um dich nicht gekümmert.“
„Aber wie soll ich das denn bloß alles verstehen? Oft habe ich Angst, dass ich den Überblick verliere.“
„Das macht doch nichts“, sagt Stroganow. „Nimm dir einen Keks und entspann Dich. Schau, wer Du bist und wo Du stehst.“ „Ich bin ein Vertreter der Agentur für Sprache und Zweifel und stehe mit einem halben Liter Bier an Deinem Kiosk.“
„Na bitte“, erklärt Stroganow, „dann ist doch alles gut, solange Du hier bist, bist Du auch sicher – hier an meinem Kiosk am Rande des Universums.“

Die atemlosen Geschichten des faltigen Schnuppenhauer

von Hans-Jörg Hennecke

Gab es vor unserer Welt schon eine andere Welt? Diese Frage bedrängt Lindemann immer wieder, wenn er durch den Refraktor der Lindener Sternwarte die Galaxis betrachtet. Wem kann man die Frage stellen? Seinem Hausarzt? Der Wahlkreis-Abgeordneten? Seinem Gastwirt ? Nach eher unbefriedigenden Antworten eines Pastors ("Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde") stellten sich ganz neue Fragen: Wann war der Anfang? Was war vor dem Anfang? Wie viele Anfänge gab es überhaupt?
Diese letzten Fragen des Sinns und des Unsinns könne nur ein Einziger beantworten, hatte eine Kräuterhexe Lindemann auf dem Markt anvertraut. Er solle doch den uralten Schnuppenhauer aufsuchen, der hause in windschiefer Laube einer Gartenkolonie jenseits des Lindener Berges. Andere winkten entnervt ab bei Nennung des Namens Schnuppenhauer. Der sei ein Fossil, ein Scharlatan und Quacksalber oder einfach nur eine Nulpe. Einer meinte gar, Schnuppenhauer sei ein Außerirdischer, den die Seinen vor einer Million Jahren auf unserem Planeten ausgesetzt hätten, weil sie seine Horrorgeschichten nicht mehr ertragen konnten. Bewiesen ist nichts von alledem. Schnuppenhauer verweigert konsequent die Aussage. Wenn es zu persönlich wird, greift er einfach zur Gitarre und singt sein eigenes Lied:
"Lasst uns brandschatzen gehen..."
Die Freiwillige Feuerwehr wollte ihn vor Jahren zum Ehrenmitglied erheben, aber der Alte war mit keinem bekannten Feuer der letzten Jahrzehnte in Verbindung zu bringen. Selbst im Städtischen Krematorium war er völlig unbekannt.
Als Lindemann den Mann ausfindig gemacht hatte, musste er vor dessen Laube erst einmal drei doppelstöckige und selbstgebrannte Kräuterschnäpse trinken, um eine gängige Gesprächsbasis zu schaffen. Der Schnaps war auf dem Getränkesektor ungefähr dasselbe wie ein Leberhaken beim Boxen. Schnuppenhauers Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet, der Mund wirkte dazwischen wie ein drohender Krater, der eine Menge glühende Magma zurückhielt. Ein Stoppelbart zeugte von zurückhaltender Pflege, aber die Augen blitzen wie Diamanten. Er trug eine alte Joppe, die an den Ärmeln mehrfach geflickt war und eine zerknitterte Röhrenhose, die keine Kleidersammlung mehr annehmen würde.
"Andere Welten? Na klar, jede Menge", sinnierte der uralte Schnuppenhauer mit einem misstrauischen Blick gen Himmel. "Andere Welten gab es und gibt es noch immer. Vor allem hier in Linden."
"Was wissen Sie aus früheren Zeiten", drängelte der atemlose Lindemann, dem ein Schauer unterirdischer Erwartung über den Rücken perlte.
"Ach, das waren noch Zeiten." Schnuppenhauer goß Kräuterschnaps nach. "Nehmen wir den Fußball. Damals wurde noch der alte Zwei-Felder-Fußball gespielt. Der lief parallel auf zwei Plätzen, jede Mannschaft spielte für sich. Damit sollten verbale Attacken und spontaner Trikot-Tausch vermieden werden. Sie werden sich nicht daran erinnern, versuchen Sie es erst gar nicht. Das ist sehr, sehr lange her. Da gab es noch nicht einmal den Deutschen Fußball-Bund, die Spiele wurden damals vom Roten Kreuz organisiert. Volljährige Zuschauer konnten selber abpfeifen, wenn das Spiel zu lange ergebnislos hin und her wogte und sie vielleicht noch einen anderen Termin hatten." Schnuppenhauer schaute wehmütig gen Himmel. "Bei zunehmender Verrohung der Menschheit hat sich Zwei-Felder-Fußball nicht durchgesetzt. Und so wurde es immer schlimmer. Von der Erfindung der Blutgrätsche bis zum American Football. Demnächst soll auch der Einsatz von Handgranaten zugelassen werden."
Lindemann atmete schwer durch und dankte dem Herrgott, dass der Oliver Kahn rechtzeitig in Rente geschickt hatte.
Schnuppenhauer bemerkte mit Genugtuung die Wirkung seiner Erzählung auf den biederen Lindemann. "Seien Sie froh, dass Sie damals nicht dabei waren. Frühere Zeiten - das war kein Zuckerschlecken. Überall tobten wilde Tiere herum. Da war zum Beispiel der sibirische Zwergleopard, der nach allem schnappte, was man ihm hinhielt. Und sogar wenn man ihm nichts hinhielt, biss er einem in die Hand. Danach musste natürlich erst mal wieder ein neuer Anfang gemacht werden."
Lindemann wurde zunehmend unklar, in welcher Realität er lebte und welcher Anfang für ihn und seinesgleichen gemacht war. Schnuppenhauer schien die Wissbegier seines Gastes zu ahnen.
"Wie viele Anfänge?" Der Alte goß wieder Schnaps ein und der brannte diesmal schon im Glas, nicht erst im Magen. "Da kann man sich ganz auf Douglas Adams verlassen. Es waren exakt 42, denn 42 ist die Antwort auf die Frage aller Fragen, wie er mit seinem seinerzeit berühmten Buch 'Per Anhalter durch die Galaxis' bewies. Was im Großen steht, lässt sich auch im Kleinen nachweisen. Nehmen wir die hiesigen Autoren unserer Regionalliga: Kersten Flenter ist 42 und Hans-Jörg Hennecke ist Jahrgang 42 - ungelogen."
Lindemann schwante, dass er mindestens einen Anfang zu früh geboren war. Was wusste Schnuppenhauer über den möglichen nächsten Anfang? "Beim nächsten Anfang ist wieder mal alles anders. Ich sehe es deutlich vor mir. Deutschland wird in zwei selbständigen aber vorerst verbündeten Staaten wiedergeboren: Aldi Nord und Aldi Süd. Darin verbergen sich allerdings Widersprüche, die zur Lösung drängen. Zum Beispiel gibt es auch in Linden-Süd nur Aldi Nord. Die Frage aller Fragen ist, ob sich das ohne Krieg lösen lässt." Lindemann war elend zumute. Er schwor sich, künftig nur noch am Kiosk von Stroganow zu kaufen. Aber womöglich gab es bei der Dramatik der Entwicklung dann auch Stroganow-Nord und Stroganow-Süd. "Ich nehme erst den übernächsten Anfang", schrie Lindemann. Aber das war wohl dem Kräuterschnaps des faltigen Schnuppenhauer zuzuschreiben.

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