Lindemann & Stroganow

Das Jahr geht zur Neige, und noch mehr / Schon wieder Weihnachten

Gelesen von Kersten Flenter und Hans-Jörg Hennecke

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Das Jahr geht zur Neige, und noch mehr

von Kersten Flenter

Wenn man dieser Tage rausgeht, fängt man sich entweder eine Grippe, K.O.-Tropfen in der Glocksee oder Freiwild ein. Also beschränkt man sich besser auf vertraute und kurze Wege, zum Beispiel zum G&G-Adventsevent an Stroganows Kiosk. Grünkohl und Glühwein, das hat etwas von wohlüberlegter Nahrungsaufnahme. Vor meinem Haus steht ein Stapel Bretter aus Palettenholz, daran klebt ein Zettel „Zu verschenken“. Ich liebe die Großzügigkeit meiner Lindener und finde es schade, dass ich keinen Bedarf dafür habe.
„Rausgehen wird eh überbewertet“, findet Stroganow, „die äußere Welt kann gar nicht so gefährlich und absurd sein wie das Kopfinnere meiner Mitmenschen. In meinem Kopf, da weht ein Fön. Schön.“, dichtet mein Mentor. „Man muss aber ab und zu raus“, überlege ich, „zum Beispiel samstags auf den Markt am Pfarrlandplatz. Wir dürfen die Märkte jetzt nicht verunsichern. Hat schon die Merkel gesagt!“
„Die Merkel hat auch gesagt, sozial sei, was Arbeit schaffe“, ätzt Stroganow mein Stichwort heraus. „Der soziale Aspekt von Arbeit befindet sich wie alles im Wandel“, stelle ich fest, „so viele Menschen wie nie haben Arbeit und so viele Menschen wie nie sind gleichzeitig von Armut betroffen. Und weißt du, was der Sozialreport 2013 noch sagt: Die Lebenserwartung von armen Menschen ist mittlerweile zehn Jahre geringer als die von Wohlhabenden.“ „Womit Sarrazin widerlegt ist!“, freut sich Stroganow, „Denn Deutschland schafft nicht sich ab, sondern die Armen. Aber damit es die Armen abschaffen kann, muss zunächst mal welche produzieren. Das ist doch logisch, oder?“ „Na klar“, lüge ich, „aber weißt du was? Das andauernde Gelaber vom demografischen Wandel, davon dass wir Deutschen zu wenig Kinder zeugten und ausstürben – welch schönes Wort! – geht mir gehörig auf die Eier. Wir sind achtzig Millionen – und wenn wir nun in fünfzig Jahren nur noch sechzig oder fünfzig sind, na und? Wen würde das kratzen? Nicht die Menschheit, und erst recht nicht die Erde. Das macht den Leuten nur Angst, weil, wenn es keine Erben mehr gibt, ihnen die ganze Sinnlosigkeit des Geldanlegens, der Witz der Götze Wachstum, ins Auge springt. Wir sollten lieber zuversichtlich unserem Untergang entgegensehen. Die große Koalition ist da schon ein schöner Anfang.“
„Apropos“, sagt Stroganow, „jetzt ist ja das Koalitionsgeschacher beendet, und weißt du, was meine größte Erkenntnis dessen ist?“ „Sag schon!“ „Da wurde wochenlang nicht regiert, und keiner hat es gemerkt. Deshalb ist jetzt genau die richtige Zeit, um die Parteien abzuschaffen und eine demokratische Räterepublik zu schaffen. Wir wählen einfach auf der einen Seite die Interessenvertretungen der Bürger und auf der anderen Seite die Vertreter der Raffgier ins Parlament, dann können wir uns die ganzen Handpuppen mit ihren Profilneurosen in den Reichtagssesseln schenken. Politik wird eh draußen gemacht, die Politiker kosten uns nur und sind völlig überflüssig. Oder kennst du auch nur einen, der die große Koalition befürwortet, häh?“ „Also, wenn ich eine Wahl habe“, überlege ich, „wähle ich doch lieber Grippe oder K.O.-Tropfen.“

Schon wieder Weihnachten

Von Hans-Jörg Hennecke

Jingle bells, jingle bells …“ Lindemann mag den Ohrwurm nicht mehr hören und summt ihn dennoch wie unter Zwang. Weihnachtsstimmung hat von ihm Besitz ergriffen, Zimtgeruch macht ihn süchtig, Lieder, Lichter und Schaufenster verlangen zwanghaft, seine Geldbörse zu öffnen. Süßer die Kassen nie klingeln … Nachbar Stokelfranz fegt die Treppe und kann seinen Wurm ebenfalls nicht verbergen, seit er im September den ersten Christstollen bei Aldi gesehen hat: „In der Weihnachtsbäckerei, da gibts so manche Schlägerei …“ Es musste schon eine ganz besondere Luft sein, die Gehirnwindungen und Kehle verkleisterte und keine Chance für andere Gedanken ließ. Kein Wunder, dass in diesem Jahr jede und jeder 273 Euro für Geschenke ausgibt, stolze 50 Euro mehr als im Vorjahr. „Uns gehts doch gut“, sagt Beamter Lindemann zufrieden. „Uns gehts doch gut?“, fragt Hartz-4-ler Stokelfranz empört.
Von oben hören die Männer plötzlich die magischen Worte. „Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?“ Beckenbauer himself, und das in ihrem Haus? Nein, es ist nur Oma Kasten aus dem ersten Stock, auch eine Lichtgestalt, aber von dieser Welt, lebenslang Steuerzahlerin im Inland. Sie wird wieder einmal von dem so plötzlich auftretenden Weihnachtsfest überrascht.
Die Politik tritt ins zweite Glied, kein Schwein interessiert sich in diesen Wochen für Mautstellen auf Hochbahnsteigen zwischen Linden und Berlin. Allerdings lasten die Evergreens des kommerziellen Weihnachten auf Jung und Alt. Dabei hat die Weihnachtsgeschichte so unkapitalistisch in einem Bethlehemer Stall begonnen. Die konnten nicht einmal die drei Könige versauen, die mit Edelmetallen und Wohlgerüchen frühzeitig versuchten, eine unheilige Allianz von Thron und Altar in der Welt zu etablieren. Vorbei und dahin, denkt Lindemann, aber der schnöde Mammon regiert immer noch die Welt. An was glaubt der Bischof von Limburg? Weihnachten – die große Heuchelei? Die Kirchen sind so voll wie sonst die Stadien der Bundesliga.
Trotzdem. Tiefe Gläubigkeit durchschreitet zuweilen seltsame Wege. So erlebte Lindemann beim Besuch einer befreundeten Familie, wie die Allmacht Gottes in den Alltag hinein wirkt und dennoch das 3. Gebot auf der Strecke bleibt.
„Du hast wieder genascht“, warf die Mutter dem etwa zehnjährigen Sohn vor. „Das kannst du gar nicht wissen“, entgegnete der trotzig. „Doch“, konterte die Mutter, „der liebe Gott sieht alles und er hat es mir gesagt.“ Schmollend zog sich der Sohn zurück. Lindemann beobachtete ihn durch einen Türspalt. Er saß auf seinem Bett, hatte die Hände gefaltet und schaute missmutig nach oben. Sein Stoßgebet bestand aus einem einzigen Wort: „Petze!“

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