Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Man stelle sich mal vor, …

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Man stelle sich mal vor, …
… Linden wird 900

Man stelle sich einen Moment lang vor, unser Land wäre das, was die Politiker von ihm behaupten. Ein Land der sozialen Gerechtigkeit, der Chancengleichheit und des Friedens. Lindemann stellt es sich vor und sieht am Küchengarten Wölfe und Schafe Ringelreihen tanzen, Skinheads stehen vor der Volkshochschule Schlange, um versäumte Bildung nachzuholen und Raucher qualmen in Gaststätten Zigaretten, die ihnen von Nichtrauchern geschenkt wurden. Man stelle sich das einfach mal vor. Ein freundlicher Millionär sammelt in seinem Daimler Parkbank-Biertrinker ein, um ihnen eine angemessen bezahlte Arbeit zu vermitteln. Multikulturelle Jugendgangs sammeln das Papier und den Unrat der Limmerstrasse ein, Lindener und Hannoveraner verbrüdern sich auf dem Hochbahnsteig der Benno-Ohnesorg-Brücke. Der Lindener Einzelhandel konzentriert sich im Linden-Park und alle alle gehen hin. Dann würden auch Lehrherren vor der IGS auf Schüler lauern, die sie mit einer Lehrstelle beglücken dürften. Und der Dekan der Uni verteilt kostenfreie Studienplätze.
Stadtwerke und Üstra führen den Nulltarif ein und aldi senkt und senkt und senkt die Preise. Man kann sich das gut vorstellen, denkt Lindemann, denn immerhin war es schon einmal so. Damals im Paradies. Aber das Paradies wurde verspielt, weil man nicht auf die Obrigkeit hörte. Und heute? Wer hört schon auf die Obrigkeit und deren Reden von sozialer Gerechtigkeit? Außer Lindemann wohl niemand.

Da sind Hasen ein Stück weiter, wie eine alte Fabel erzählt:
Eine Hase rast panisch über ein Feld. Ein anderer Hase sieht das und schließt sich vorsichtshalber an. Irgendwann bleiben sie völlig ausgepumpt stehen. Da keine Verfolger zu sehen sind, fragt der zweite Hase: Warum fliehen wir?
Sie haben eine neue Verordnung erlassen, informiert der erste Hase. Danach wird jedem Hasen das fünfte Bein abgesägt. Dann haben wir doch nichts zu befürchten, wir haben vier Beine, wirft der zweite Hase überrascht ein. Du kennst sie nicht, meint der erste Hase. Erst sägen sie, dann zählen sie.

Und so bleibt es eben dabei, dass ein Porsche-Manager soviel Löhnung erhält wie 14.000 Hartz IVEmpfänger. Und Papier und Unrat bleiben achtlos in der Limmerstrasse. Wo doch in sechs Jahren das große Jubiläum ansteht: Linden wird 900! Man stelle sich das einfach mal vor.

von Hans-Jörg Hennecke

Jenseits der Vorstellungskraft

Ich hatte es immer geahnt, Einstein hatte es auch mal lax vorformuliert, aber nun weiß ich es endgültig, nach dem Sichten Bülent Mittelschmidts Reifezeugnisses – die menschliche Dummheit ist unendlich, aber niemals so lustig wie die menschliche Vorstellungskraft. Die menschliche Vorstellungskraft wiederum ist niemals so widerlich wie die Realität. Stroganow stellt sich eh die Realität nicht als Ort oder Seinszustand, sondern vielmehr als den Prototypen der ehemaligen Transitstrecke zwischen Helmstedt und Berlin vor – holprig, mit versteckten Kontrolleuren und Arschlöchern am Rande und unsicheren Regeln, während die Protagonisten auf der Durchfahrt heimlich Ausschau nach billiger Prostitution halten. Lassen wir das. Manche füllen sich zu Zwecken genitaler Befriedigung eine Thermoskanne mit Thüringer Mett, andere verscharren ihre Babys in Blumenkästen und wieder andere schaufeln versteckte Verliese im Keller ihres Einfamilienhauses. Die Österreicher und Belgier sind bekanntermaßen ganz vorn im Überschreiten unserer Imaginationsfähigkeit, aber auch der Lindener an und für sich neigt bisweilen zu schamfreier Selbstentblödung. Machen Sie den Test, gehen Sie mal zu einer Stadtteil-Lesung im STERN und beobachten ein paar Stunden später einen der Bühnenprotagonisten bei seinem Absturz im BÖSEN WOLF. Hanebüchen ist etwas völlig anderes!
Niemand von uns ist vor der plötzlichen Einsicht gefeit, dass er ein stets neu zu entwirrendes Knäuel von Seemannsgarn ist. Manchmal ertappen wir uns dabei, wie unser Leben die letzte Seite der BILDZeitung nachstellt. Dann geht es uns nicht gut.
„Ich glaube nicht, dass Barak Obama der nächste Jesus Christus ist“, behauptet Stroganow, und ich kann mir vorstellen, ihm Recht zu geben. Mir genügte schon, wenn er nicht der nächste Uri Geller wäre. Der kommende Messias müsste meiner Ansicht nach schon eine Mischung aus Obama, David Copperfield und Thomas Gottschalk sein. Aber welchem Stern müsste man folgen, um den zu finden?
Der Abgang George Walker Bushs führt uns eindringlich vor Augen: man kann in acht Jahren eines Lebens eine Menge anderer Leben auslöschen. Oder aber Menschenleben einfach verschwinden lassen. Andererseits: ohne aktenkundliche Dokumentation läuft weltweit gar nichts. Alles, was wir im trüben Wasser unterzutunken glaubten, wird am Ende einer temporären Realität wieder an die Oberfläche gespült. Ben Becker, vergib uns. Wir wissen was wir tun.

von Kersten Flenter

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