Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Geister, die niemand rief

von Kersten Flenter

„Alles könnte anders sein“, seufzte Bülent Mittelschmidt, nippte verstohlen an Stroganows Neujahrspunsch und sah der Rakete nach, die der Halbwüchsige vor dem Kiosk soeben durch Mittelschmidts Beine hindurch ebenerdig in Richtung der gegenüberliegenden Häuserzeile abgeschossen hatte.
Nachträgliche Vertreibung der Geister des Vorjahres, vermutete ich. „Du weißt aber, dass das jemanden verletzen kann, oder?“, mahnte Mittelschmidt pädagogisch. „Fuck off“, entgegnete der 9-jährige, und mir fiel wieder einmal auf, dass Jugendsprache keine wirklichen Neuerungen und erst recht keine Bereicherung der deutschen Zunge darstellte. Und dabei ging es noch nicht einmal um das leidige Anglizismen-Thema. Das Kind wusste ja nicht, dass es gerade Englisch gesprochen hatte, es griff lediglich auf den Sprachschatz zurück, den es sich beim Schlüssellochspähen ins elterliche Schlafzimmer selbst angeeignet hatte. Mir war das völlig wumpe. Ich hatte ein Kalenderjahr überlebt und freute mich auf die Schikanen des nächsten. Nur Stroganow steckte bereits am 1. Tag des Jahres schon voller Pläne. „Ich hab da ne super Idee für ein Kinderbuch“, begann er. Mittelschmidt und ich gingen in Deckung. „Welchen Titel findet ihr besser – Der kleine Hartz IV-Empfänger oder Der doofe Prinz?“ Mittelschmidt formte beiläufig einen Schneeball. „Sind beide super“, sagte ich, und wovon handelt das Buch? Was ist die Story?“ „Äh, das ist nicht so einfach, die Handlung ist ziemlich verschwurbelt.“ „Schon doof“, sagte Mittelschmidt und warf Stroganow den Schneeball durch die Kioskluke, „ich hab da ja mal ein Praktikum bei ner Filmproduktion gemacht. Da musst du ne Idee in einem Satz darstellen können. Pitchen nennt man das. Also, Stroganow, was ist der Pitch deiner Geschichte?“ Stroganow überlegte einen für ihn ungewöhnlich langen Augenblick. „Man sieht nur mit den Augen gut!“ platzte es dann aus ihm heraus. „Was willst du damit sagen?“, fragte ich, mehr mich selbst. „Herzen gucken nicht“, erklärte Mittelschmidt, „Guck an“, sagte ich. „Baise toi“, sagte das Kind. Ein Sprachgenie. Ich sah ihn an und sagte zu Stroganow: „Ich helf dir gern bei deinem Anti-Kinderbuch.“ „Ich auch“, sagte Mittelschmidt. Dies versprach, das Jahr des Bestsellers zu werden.

Oder so, nicht wahr?

Von Hans-Jörg Hennecke

„Und dann sind wir um die Ecke gebogen, nicht wahr; da war ein großes Loch, nicht wahr; und da sind wir alle reingefallen, nicht wahr?“
„Nein, das ist nicht wahr“, schrie Lindemann, als er sich diesen Schwachsinn anhören musste. Der Mann sprach über alle Lebenslagen, doch immer endeten die kurzen Halbsätze mit einem beifallheischenden „nicht wahr“.
Kürzlich war Lindemann aufgefallen, dass manche Zeitgenossen ihre belanglosen Aussagen mit einem Schnörkel abfederten. Sogar seine Freundin verkündete, sie wolle sich einen Motorroller kaufen oder so...
„Oder was“, wollte Lindemann wissen. Die Freundin verstand ihn nicht.
„Oder steht für eine Alternative, für eine andere Möglichkeit“, donnerte er. „Du solltest in ganzen Sätzen sprechen. Ich kaufe einen Motorroller oder so ein Fahrrad, weil das umweltfreundlicher ist.“
Die Freundin stutzte. „Motorroller sind auch umweltfreundlich, die verbrauchen viel weniger als ein Auto und man ist beim Fahren an der frischen Luft oder so...“
Da wusste Lindemann, wie die Alternative hieß: Schnauze halten – oder die Beziehung würde in diesem Moment in die Brüche gehen - oder so... Im übrigen gab es Schlimmeres. Da hatte ihn neulich ein zwielichtiger Bursche angehauen: „Hassu ma Zarette?“ Lindemann resümierte: Manche gesellschaftliche Schichten sind heute so bildungsfern, denen kannst du eine Stadtbücherei vor die Haustür setzen oder einen Volkshochschul-Kursus ins Wohnzimmer drücken, die wissen immer nur, wie sie sich zwischen Hamlet und Kotelett entscheiden. Sie sind es, die unsere schöne deutsche Sprache sturmreif schießen und dem Denglisch den Weg ebnen. Am schlimmsten sind die Werbefuzzis. Sie bieten etwa „Touch-Phone“, unterteilt in „black edition“ oder „white edition“, Urlaub muß „all-inclusive“ sein und sogar eine Kirche schmückt ihre „Homepage“ mit „Soul side Linden“.
„Es sind eben nicht die Jugendlichen“, behauptete Nachbar Stokelfranz.“Die sind längst wieder deutsch. Die Stewardess heißt bei denen Saftschubse und der unfehlbare Duden hat das Wort übernommen. Public-viewing? Nichts da, die gehen Rudelgucken. Und pommes frites sind nun Aknestäbchen.“ Oma Kasten aus dem ersten Stock schüttelte den Kopf. „Die Jugendlichen übertreiben. Hole ich mir gestern die Apotheken-Umschau, sagt so ein Pöks: Na Oma, wieder die Rentnerbravo abgegriffen?“

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