Lindemann & Stroganow

Oben ohne nach Braunschweig / Staunen, staunen, staunen

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Oben ohne nach Braunschweig

Von Hans-Jörg Hennecke

Endlich ist es rum, das alte Jahr“, stöhnte Nachbar Stokelfranz. Oma Kasten aus dem ersten Stock war ganz anderer Meinung: „Wenn man nur noch wenige Jahre hat, kann man damit nicht so rum aasen. Vielleicht habe ich auch nur noch dieses Jahr. Mein Herz …“ „Frauen werden 95“, tröstete Lindemann. „Im neuen Jahr wird alles besser.“ „Ein neues Jahr ist auch nichts anderes als ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier“, sinnierte Oma Kasten. „Dafür hat es einen Tag mehr, ist ein Schaltjahr“, schlaumeierte Stokelfranz. „Hauptsache man weiß, wo man hingehört“, entschied Oma Kasten. Die Männer waren nicht sicher, ob sie damit die erste Etage des Hauses oder den Friedhof meinte. Stokelfranz überspielte das Problem mit einer Anekdote zum Thema. „Kam doch die Tage ein Braunschweiger in Kluft in unsere 96er-Kneipe. Als er seinen Irrtum bemerkte,wollte er sich klammheimlich davonschleichen. Ging aber nicht, der dicke Manni stand ihm im Weg und erklärte: ‚So kommst du hier nicht weg, musst erst würfeln. Bei einer 1 bis 5 hauen wir dir einen bis fünfe rein.‘ ‚Und was passiert bei einer 6‘, wollte der Braunschweiger wissen. ‚Da darfst du nochmal würfeln‘, erklärte ihm Manni. Haben wir gelacht.“ „Lebt der Mann noch“, wollte Lindemannwissen. „Na klar, völlig unbeschädigt. Wir haben ihm das Trikot abgenommen und er hat eine Runde gezahlt. Dann durfte er ab nach Braunschweig. Oben ohne.“ „Und jeder weiß, wo er hingehört, hat seine Familie“, kommentierte Oma Kasten mütterlich. Lindemann fiel Alfred Hitchcock ein. Der hatte mal gesagt: „Alle schlechten Eigenschaften entwickeln sich in der Familie. Das fängt mit Mord an und geht über Betrug und Trunksucht bis zum Rauchen.“ Oma Kasten nickte. „Das Rauchen ist auch gar nicht schön. Die Vorhänge werden davon so gelb. Also, mein seliger Mann …“ Oh Gott, dachten die Männer, bleibt einem nichts erspart? Neues Jahr und alte Geschichten, das konnte heiter werden. Von Regierung und Opposition aus Berlin war auch nichts besseres zu erfahren. Lindemann war sich sicher, dass dort das Würfelspiel ersonnen wurde, mit dem der dicke Manni den Braunschweiger schockte. Aber als Beamter durfte er das natürlich nicht einmal denken, höchstens die europäische Dimension einbringen. Er wandte sich direkt an Oma Kasten: „Wissen Sie eigentlich, dass die Holländer überhaupt keine Gardinen vor ihren Fenstern haben?“ „Ich sage ja“, konterte die Alte, „man muss wissen, wo man hingehört.“

Staunen, staunen, staunen

von Kersten Flenter

Stroganows Kiosk steht noch, als ich ankomme. „Was war denn hier los?“, wundere ich mich. Kaum bin ich mal einen Abend weg, ist nichts mehr wie es war. Im gesamten Straßenabschnitt fehlten die Überreste der sonst silvesterüblichen Böller- und Raketenreste. „Ja nix“, bestätigt Stroganow, „willste’n Bier?“ „Wenn`s der Wahrheitsfindung dient“, floskeliere ich. „90 Cent“, sagt Stroganow. „Wie, 90 Cent? Ist dieses Jahr das Bier billiger?!“ „Nur für dich“, beruhigt mich Stroganow, „du bist jetzt lange genug hier, um mein Premium-Privatkunde zu sein. Da verbessern sich die Konditionen.“ „Aber das ist nicht nötig“, sage ich, „zur Zeit habe ich Einkommen. Ich brauche keine Vergünstigungen.“ Stroganow grölt. Jetzt endlich verstehe ich. Das Wulff-Prinzip – wer schon genug Geld hat, bekommt noch mehr hinterher geworfen. „Also hör mal, so einfach ist das alles nicht“, protestiert Mittelschmidt, der gerade einen Euro und zwanzig Cent für sein Lindener bezahlt hat, „der Kreislauf von Ökonomie ist viel komplizierter als ihr vorgebt, ihr Halb- bis Nichtwissenden!“ „Irrtum“, erklärt Stroganow, „es ist viel einfacher, als DU denkst, Mittelschmidt.“ „Und es geht sogar noch einfacher“, stimme ich ein. Letztens las ich nämlich einen Leserbrief in der HAZ. Der Tenor dessen war, wir sollten es den Akteuren in der Wulff-Affäre nicht übel nehmen - das einer dem anderen helfe, sei doch ein Prinzip der Solidarität, und wir wären dabei, dieses Prinzip zu beschmutzen, wenn wir einem Ministerpräsidenten missgönnen, dass er Geld von einem Freund nehme, wenn er in Not sei. „In Not?“, wundert sich jetzt selbst Mittelschmidt. „Klar“, sage ich, „er brauchte dringend ein Haus und noch ein bisschen Geld oben drauf. Was für eine tragische Situation!“
„Erstaunlich“, meint Stroganow und reibt sich nachdenklich das Kinn. „Was?“ „Dieser Leserbrief.“ „Warum? Es spricht für das Niveau der HAZ-Leser.“ „Das hat nichts mit den Lesern zu tun. Solche Meinungen lancieren sie auf der Leserbrief-Seite der HAZ gern mal, wenn sie von redaktioneller Seite keine Chance mehr haben, den Konservativen ins Horn zu blasen.“ „Ach was!“, staune jetzt ich. „Ist das die konservative Strategie für 2012 – den Wert „Solidarität“ bewahren, in dem man ihn seiner Bedeutung entreißt und für den Klüngel unter Reichen reklamiert?“ „Ziemlich armseliges Strampeln mit der Sprache“, sagt Mittelschmidt. „Ach, halb so wild“, sagt Stroganow, „wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, pinkelt es aus Trotz gern ins Wasser.“ Dem gehe ich lieber nicht mit auf den Grund.

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