Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Der Neffen-Trick

von Hans-Jörg Hennecke

Verwandtschaft kann eine Strafe sein, dachte Lindemann, je entfernter, desto mehr. Er fand das Vorurteil wieder einmal bestätigt, als er kürzlich einen folgenreichen Anruf erhielt. „Hier ist deine Cousine Renate aus München“, begann sie ihre Ansprache. Lindemann erinnerte sich an keine Renate, schon gar nicht im Umfeld des FC Bayern. Um nicht aufzufallen fragte er: „Was machst du in München?“ „Ich wohne hier, bin doch vor zwanzig Jahren aus Linden weg, wegen Job. Na ja, ein Mann war auch im Spiel.“ Lindemann erinnerte sich an keinen Mann, der eine Lindenerin weglocken könnte, was die Dame nicht störte. „Ich habe eine Bitte. Mein Sohn Mirko hat ein Vorstellungsgespräch in Hannover und ich hätte es gern, wenn er bei dir einige Tage wohnen könnte. Der ist nämlich erst 19 und kennt nur das Hotel Mama. Immerhin bist du sein Onkel.“ Lindemann fiel der Enkel-Trick ein, wo angebliche Verwandte auftauchten, unter einem Vorwand 30.000 Euro abkassierten und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Vielleicht gab es neuerdings den Neffen-Trick, eingefädelt von schlauen Schein-Cousinen?
Lindemann prüfte die Anruferin. „Sage mal, Renate, wie hieß unsere Tante in Limmer?“ „Hast du das vergessen?“ „Nein, ich will dich prüfen.“ „Glaubst du, ich bin dement? Die hieß Alina.“ Lindemann überlegte: Hieß die alte Dame nicht Alissa? Jedenfalls beschloss er, wachsam zu bleiben.
„Mirko kommt morgen mit dem Zug um 16.45 Uhr in Hannover an. Hol ihn bitte ab.“ Lindemann sah keinen Ausweg aus der familiären Umklammerung und fügte sich zähneknirschend. „Wie erkenne ich ihn, hat er seinen Teddybär dabei?“ „Nein, er ist Sportler, hat eine Mütze von Bayern München auf, das dürfte bei euch nicht so häufig vorkommen.“ Gottseidank, dachte Lindemann, ausgerechnet der FC Arroganz.
Schon auf dem Bahnsteig machte Mirko seinen Onkel Lindemann sprachlos. Das lag aber nicht am Bayern-Käppi. „Ich bin der Mirko und du bist Onkel Lindemann. Soweit richtig?“ Der Bayer grinste selbstbewusst. Lindemann nickte unsicher. „Also zur Sache. Mama ist ziemlich von gestern. Ich werde nicht mit dir kommen, weil ich eine Bleibe bei Corinna habe. Die wohnt übrigens am Lindener Markt. Ich weiß von Mama, dass Linden der Nabel der Welt ist, aber ich bin an anderen Körperteilen interessiert.“ Lindemann dachte an lange Beine und vermutete, dass der sportliche Junge mit Corinna vielleicht für den Hannover-Marathon trainieren wollte. „Also Alter, leg dein greises Haupt zur Ruhe, ich störe dich nicht.“ „Aber deine Mutter...?“ Lindemann fürchtete telefonisches Ungemach. „Die wird anrufen und mich nach dir fragen...“ „Die ruft mich auf meinem Handy an und ich sage ihr dann, wie toll es bei dir ist. Vergiss mal nicht: Ich bin volljährig.“ Mirko tippte lässig an der Bayern-Mütze und verschwand im Gewühl. Lindemann war platt, fühlte sich aber nicht unwohl. Ruft die Cousine an, konnte er auf Trainingsstrecken des Neffen verweisen. Der war immerhin volljährig. Damit hatte Lindemann seine Ruhe und gegenüber dem üblen Enkel-Trick noch glatte 30000 Euro gespart.

Während des Wartens

von Kersten Flenter

Wir warteten an der neuen Fußgänger- und Radfahrerampelanlage am Küchengarten und starrten seit vierzehn Stunden gebannt auf das Rotlicht. Neben Stroganow, Mittelschmidt und mir warteten noch 73 andere Lindener Menschen, man konnte diese Szene also durchaus als Public Viewing bezeichnen. Nicht einmal die Afghanistan-Fähnchen an Stroganows Klappradlenker konnten die Blicke der Passanten von dem kleinen roten Männchen ablenken. Vorrunde und Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft gingen vorüber, wir verfolgten die entscheidenden Spiele auf Mittelschmidts iPhone. Das deutsche Team deklassierte England, Gauck oder Wulff wurden zum Bundespräsidenten gewählt, wen interessierte das schon. Die Regierung nutzte die Ablenkung der WM wieder einmal zur schnellen und unauffälligen Verabschiedung unpopulärer Gesetze. „Immer dieselbe Masche“, motzte Stroganow, „man erfreut sich an den ersten Sonnenstrahlen des Jahres, geht ins Schwimmbad, und schneller als der Schmerz nach einer Arschbombe vom Dreier einsetzt, hat dir die GEZ die dreifachen Gebühren vom Konto geklaut. Dann kommst du nach Hause und bist auf einmal verpflichtet, deiner Schwiegermutter Sterbehilfe zu leisten, während du einen Bettelbrief der FDP aus dem Briefkasten fischt, in dem du aufgefordert wirst, dein überflüssiges Einkommen als Spende für bessere Bildungschancen armer Anwaltskinder zu opfern.“ „Hinter allen Rücken ist Ruh“, sagte ich. Die Alleinerziehende mit dem Hollandrad, die neben Stroganow wartete, hielt ihrer Tochter im Kindersitz die Ohren zu. Eine Familie hinter uns breitete gerade ihre Kücheneinrichtung aus, um ein Picknick einzuschieben, als die Ampel plötzlich auf grün schaltete. Unser Menschenauflauf setzte sich in Bewegung, kam aber auf der Mittelinsel wieder zum Halten, da die zweite Ampel nun wieder auf rot umgesprungen war. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass sich unsere Masse ungefähr verdoppelt hatte, denn die Menschen, die aus der Gegenrichtung vom Küchengarten aus in Richtung Limmerstraße die Fössestraße überqueren wollten, hatten natürlich das selbe Problem wie wir. Nun standen etwa 150 Leute auf halber Strecke, geballt wie eine römische Kohorte in Schildkrötenposition. „Wer denkt sich denn so eine schwachsinnige Ampelschaltung aus?“, murrte Mittelschmidt. „Leute wie du“, sagte Stroganow, „hochgebildete Ingenieure.“ „Regt euch doch nicht auf“, beschwichtigte ich, „der Trend geht eh wieder zum Kreisverkehr. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass hier demnächst Deutschlands erster Fußgängerkreisel entstehen soll. Es gibt auch bereits einen solventen Investor, die Carlyle-Group.“ Wehmütig blickte ich zurück Richtung Limmerstraße. Vor zwei Tagen hatte ich mich in Linden-Nord auf den Weg gemacht und immer noch nicht die Grenze nach –Mitte überwunden. Dafür hatte ich eine Menge neuer Bekanntschaften geschlossen und viele interessante Gespräche geführt. Endlich schaltete die Ampel auf grün. Ich rieb mir den Stoppelbart und sah meinen Mitmenschen zu, wie sie wieder in ihre virtuellen Welten verschwanden.

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