Lindemann & Stroganow

Dialektik für den Hausgebrauch / Systemrelevanz im Kiez

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Systemrelevanz im Kiez

von Kersten Flenter

Über Stroganows Kiosk prangt seit jüngstem ein drei mal zwei Meter großes Banner: „Zu groß zum Scheitern.“ Das finde ich gewagt, denn mit 1 Meter 76 ist Stroganow nicht unbedingt ein Riese. Rechtfertigung tut Not. „Ich bin auch systemrelevant“, erklärt Stroganow, „mindestens so wichtig für meinen Kiez wie die Hypo Real Estate Bank für Europa.“ „Also komplett verzichtbar“, mischt Bülent Mittelschmidt sich ein. Stroganow ist empört. Die beiden streiten sich jetzt schon seit Tagen, aber ich habe noch nicht herausgefunden, was dahintersteckt. Ich glaube, die beiden hecken gerade wieder eine neue Geschäftsidee aus, und ich bin zu blöd, um sie zu verstehen. Wahrscheinlich stecken sie unter einer Decke. Mittelschmidt hat vor einigen Tagen eine Kiosk-Ratingagentur gegründet. Auf einer Skala von Einbecker Pilsener bis Herrenhäuser bewertet er jetzt sämtliche Kioske des Stadtteils, und zwar nach beinharten Kriterien. Ein Kiosk in der Stephanusstraße zum Beispiel bedient ein zahlungskräftigeres Klientel als ein Kiosk in der Charlottenstraße und schneidet daher gut ab. Zwei Herri auf der Ratingskala. Lässt ein Kioskbesitzer außer seiner Kernfamilie noch Verwandte zweiten Grades mitarbeiten, schneidet er weniger gut ab, denn dann arbeitet die Familie zu wenig oder macht zuviel Urlaub. Ist ein Kioskbesitzer dazu gar noch Grieche, Portugiese oder Ire, ist die schlechteste Note vorprogrammiert. Einbecker Urbock auf der Ratingskala. Und schon werden die Tantiemen vom Bierverlag des Kioskbesitzers gestrichen, seine Kreditwürdigkeit sinkt und der Ruin ist vorprogrammiert. Kein Wunder also, dass die Anzahl irischer Kioske in Linden seit drei Tagen rapide zurückgegangen ist.
„Wie?“, wundere ich mich, „und das alles nur weil ein Hansel wie Mittelschmidt, der mit seiner Agentur Geld verdienen will, eine subjektive Einschätzung abgibt? Das ist doch grotesk.“ „Grotesk, mein Lieber, ist ein Wort aus dem 20. Jahrhundert. Heute gilt die Vokabel „rational“ für dieses Prozedere“, meint Mittelschmidt.
So ganz verstehe ich Stroganows Werbeaktion immer noch nicht. „Aber die Leute, die jeden Tag ihr Bier an ihrem Kiosk kaufen, wissen doch genau, dass der auch Geld einnimmt.“ „Jaja“, erklärt Stroganow, „aber darauf kommt es nicht an. Mittelschmidt hat genug unbezahlte Praktika in PR-Agenturen gemacht um zu wissen, dass er den Leuten mit der richtigen Medienstrategie alles verkaufen kann. Durch überdimensionale Anzeigen und geschickt lancierte Leitartikel in systemrelevanten Medien, sagen wir dem Lindenspiegel, sprich, durch maximalen Populismus, glaubt Otto Bildleser von nebenan natürlich, dass der Grieche an der Ecke pleite ist. Er wird skeptisch, ob das Bier am griechischen Kiosk auch frisch ist, denn laut Mittelschmidt ist der Grieche ja pleite und kann sich keine Einkäufe mehr leisten. Also kauft er nicht mehr beim griechischen sondern am deutschen Kiosk, denn der Deutsche hat zwar auch kein frisches Bier, aber er könnte, wenn er wollte, frisches kaufen, weil er fleißig ist und kreditwürdig. Hast du es jetzt kapiert?“
So läuft das also. Und deshalb kann Stroganow auch günstige Kredite aufnehmen, um teure Banner über dem Kiosk zu bezahlen. Mir raucht der Kopf vor lauter Eurokrankheit, und meine Leber verlangt nach einem Gegengift. „Einbecker oder Herri?“, fragt Stroganow. „Ich bleib beim Lindener“, sage ich.

Dialektik für den Hausgebrauch

Von Hans-Jörg Hennecke

„Wer ist Freund, wer ist Feind? Da kann man doch nicht mehr durchblicken“, verzweifelt Lindemann. „Auf welcher Seite vom AKW stehen die Politiker? In wessen Interesse schieben sie Milliarden nach Griechenland? Warum wurden auf unschuldige Salatgurken Totenköpfe gemalt? Da werden Positionen gewechselt, so schnell kann man gar nicht gucken.“ „Das ist alles Dialektik“, verkündet Nachbar Stokelfranz großspurig. “Position, Gegenposition, höhere Position – müssten Sie doch wissen als Beamter.“ Lindemann weiß nicht und so versucht es Stokelfranz mit einer populären Tiergeschichte, dem Nachbarn auf die Sprünge zu helfen: „Eine Katze jagt eine Maus. Die weiß sich nur noch auf eine Kuhweide zu retten, fleht dort die Kuh an, sie vor der Katze zu verstecken. Die gutmütige Kuh lässt einen Fladen auf die Maus fallen. Die Maus ist verschwunden, aber das Ende vom Schwänzchen schaut heraus. Das sieht die Katze, zieht daran die Maus aus dem Fladen, reinigt sie oberflächlich und frisst sie Dialektik für den Hausgebrauch. Die Moral von der Geschichte: Nicht jeder, der dich bescheißt, ist dein Feind. Nicht jeder, der dich aus der Scheiße zieht, ist dein Freund. Und wenn du schon in der Scheiße steckst, dann ziehe wenigstens den Schwanz ein.“
„Was sind das für böse Worte“, mischt sich Oma Kasten aus dem ersten Stock ein. „Wenn das Minderjährige hören…“„Die reden heute noch eine Ecke deftiger, liebe Oma Kasten“, verteidigt sich Stokelfranz. „Gestern hat ein Pöks zu mir ‚Festnetztelefonierer‘ gesagt. Gut dass ich nicht weiß, welche Schweinerei im Handy-Zeitalter dahinter steckt.“ Oma Kasten wirkt überfordert. Sie zieht sich unwillig aber dezent in ihre Wohnung zurück.
Lindemann schaut unglücklich. Er wünscht sich überschaubare Politik mit verständlichen Aussagen, die über den Tag Bestand haben. „Sind wir demnächst noch in der Europäischen Union oder waren dann alle schon immer gegen die Mitgliedschaft, weil sie viel zu teuer ist? Kommt die Deutschmark in kräftigen Stiefeln zurück, wenn alle Euros nach Griechenland, Portugal und Irland abgeschoben sind? Gibt es bei Wahlen demnächst den Quick-Tip, weil da die Trefferquote höher ist?“ Stokelfranz zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber wenn wir nächstes Jahr Fußball-Europameister werden, interessiert das sowieso keinen mehr.“ „Schafft Jogi Löw das?“
„40 % sind Können und 70 % Glück.“ Lindemann stutzt. “40 und 70 %? Das geht doch gar nicht.“ „Doch, unsere Spieler brauchen das so. Auf dieser Basis berechnen die ihre Ablösesummen.“ Lindemann schüttelt den Kopf. „Kein Wunder, dass der Schwanz immer aus der Scheiße guckt.“

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