Lindemann & Stroganow

Lindemann und die Doktorei / Nichts, nichts und noch mal nichts

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Lindemann und die Doktorei

Von Hans-Jörg Hennecke

Manchmal ist es Lindemann peinlich, ohne Doktor-Titel dahin leben zu müssen. Denn schließlich könnte jemand auf die naheliegende Idee kommen, der Titel sei ihm wegen unsäglicher Abschreiberei entzogen worden. Dabei ist das überhaupt nicht der Fall. Als Lindemann seinerzeit erfolgreich die Volksschule absolvierte, war ein Doktor grundsätzlich Medizinmann, Respektsperson und Allheilmittel bei allen Unpässlichkeiten. Dafür trug er einen blütenweißen Kittel, hatte ein Abhörgerät, ein Rachenholz und für hartnäckige Kunden die Spritze. Er allein war für die Gesundheit zuständig. Heute sind die Medien für die Gesundheit zuständig. Damit überbrücken sie mühelos die fußballlose Zeit und haben die früher übliche sommerliche Sauregurkenzeit ausgerottet wie Pest und Cholera. Ist das Pokalendspiel vorbei, ziehen sie aus ihrem Repertoire einen mikroskopisch kleinen Terroristen, nennen ihn EHEC und siedeln ihn auf einer Gurke an. Nicht auf irgendeiner. Sie sagen, der wohnt auf einer Gurke aus Norddeutschland und lauert auf arglose Verbraucher. Dann werden alle norddeutschen Gurken auf den Müll geworfen und entsprechende Ware in Holland geordert, wo es fußballmäßig auch nicht zum besten steht. Nach heftigen Protesten des Niedersächsischen Bauernverbandes wird die heimische Gurke anschließend freigesprochen. Sie sei mit einer spanischen Gurke verwechselt worden, weil ihr die zum verwechseln ähnlich sehe. Da die Gurken vom Müll nicht recycelt werden können, steigen die Preise und ein leibhaftiger Doktor sagt im Fernsehen, man müsse die Gurke nur Abwaschen, dann könne gar nichts passieren und der Keim laufe ins Leere. Trotzdem kommt es zu ersten Todesfällen durch EHEC. Wer lutscht schon an iner grasgrünen Salatgurke? Der Fernsehdoktor redet sich damit raus, dass der gefährliche Keim auch auf anderem Gemüse hocken könnte. Das wird daraufhin vom Großmarkt komplett zur Müllkippe gefahren, diesmal einschließlich spanischer und holländischer Importe. Frau Merkel erwägt einen kurzen Moment die Auflösung der EU und die Dänen führen Grenzkontrollen ein. Wenn die Griechen jetzt klammheimlich zur Drachme zurückkehrten, würde das niemand bemerken.
Vegetarier laufen mit Hungerödemen durch die Stadt und kaufen bei Aldi Vitamintabletten. Ein Ernährungsexperte von Lidl warnt eindringlich vor Aldi-Tabletten. Nur Nachbar Stokelfranz bleibt nervenstark. „Am 5. August beginnt die Fußball-Bundesliga, dann braucht kein Mensch mehr EHEC.“ Oma Kasten aus dem ersten Stock bekommt gar nichts mit, weil die „Apotheken-Umschau“ so unaktuell ist. Sie wundert sich über den Mangel an Gemüse und denkt an das Jahr 1945, als sie wenigstens noch einen eigenen Garten bewirtschaftete. Lindemann isst Eisbein mit Sauerkraut und hofft, dass die Vegetarier bis zum 5. August durchhalten.

Nichts, nichts und noch mal nichts

von Kersten Flenter

„Worüber reden wir heute?“, fragt Mittelschmidt, während er seinen Riesen-Happen isst. 28 Grad am Nachmittag, der Sommer ist definitiv da, inklusive Loch. Es bricht die schlimme Zeit an, wenn Männer wieder kniefreie Hosen tragen und die jungen Frauen schon vormittags Designer-Bier trinken. „Keine Ahnung“, sage ich, „ich bekomme schon seit Tagen nichts mehr mit, weil ich tagsüber Tonnen und Schutt und Geröll bewege und abends die Augen nicht mehr auf Fernsehen oder Internet gerichtet bekomme.“ Von Zeitungen schweigen wir mal lieber gleich. „Du Armer“, sagt Mittelschmidt, der weltweit schon mehr digitale Spuren im Netz als analoge Fußspuren auf der Erde hinterlassen hat. „Das ist schon okay“, sage ich und betrachte die Schwielen an meinen Händen, „ich bin zwar abends verdreckt, verschwitzt und vermuskelkatert, mache aber tagsüber die schöne Erfahrung, dass es tatsächlich noch Lebensbereiche gibt, die außerhalb medialer Inszenierung stattfinden. Das beglückt mich zuweilen.“ „Darauf ein Bum-Bier“, sagt Stroganow.
„Und wir reden heute über gar nichts?“, staunt Mittelschmidt, „Kein Kommentar über Tote in Afghanistan, nix über Gurken-Diarrhöe, nicht mal ein Spott über Waldemar Hartmann?“ Stroganow überlegt. „Ich hab da noch ein paar Gurken hinten im Lager“, fällt ihm ein. „Seit wann verkaufst du denn Gemüse?“, wundere ich mich. „Ach, die sind nur für den Fetischisten von umme Ecke. Nix zum Essen, wenn du verstehst, was ich meine.“ „Sollten dieser Tage vielleicht alle so machen“, findet Mittelschmidt, „die Gurken nicht oben rein, sondern hinten, hat dann auch gleich ne Korkenfunktion.“ Ich schaue leicht pikiert in die Gegend. Mittelschmidt ist peinlich. Und ich bin einfach zu müde, um ständig die aktuelle Mediensau zu kommentieren, die gerade durchs globale Dorf getrieben wird. Wir wissen doch: man muss die Halbwertszeit medialer Aufregung verstreichen lassen und einen Monat später nachsehen, was so passiert, wenn die Schlagzeilen verpufft sind. Ganz klammheimlich erfahren wir dann von längst passierten Super-GAUs und Kernschmelzen, zum Beispiel. Vielleicht wird ja „Salamitaktik“ Unwort des Jahres, vielleicht wird Unwort des Jahres aber auch zum ersten Mal ein Mensch, zum Beispiel Prof. Dr. Michael Hüter (hat da eigentlich schon mal jemand eine Dissertationsrecherche betrieben?), Merkel-Think-Tank und Chef Logorhröeiker der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. „Was ist das denn?“ „Das ist so eine arbeitgeberfinanzierte Propagandavereinbarung für Klassenkampf von oben. Kaufen sich bevorzugt bei Anne Will, Plasberg und Co. in die Talkshows ein.“ „Das ist ja klar. Ich meinte, was ist Logorrhöe?“ „Sprechdurchfall, du dummer Praktikant“, weiß Stroganow. Wobei wir wieder bei EHEC wären. „Ach Gott,“ sage ich nur, lass uns lieber aufhören.“ „Worüber haben wir denn heute geredet?“, will Mittelschmidt wissen. Mal wieder nicht aufgepasst, der junge Mann.

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