Lindemann & Stroganow

Müßige Beobachtungen an freien Vormittagen im Stadtteil / Schnäppchenjäger

Gelesen von Kersten Flenter und Hans-Jörg Hennecke

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Vorsicht: Kunst

von Hans-Jörg Hennecke

Wie kann man moderne Kunst erkennen? Wie kann man sie gar erklären?

Wenn Nachbar Stokelfranz seinen Keller entrümpelt, was nur einmal im Doppel- Jahrzehnt stattfindet, stehen auf dem Fußweg lädierte Zeitzeugen einer Wohnkultur, die noch in der Ära der Kanzlerschaft Willy Brandts unwiderruflich unterging. Sie sind raumsparend gestapelt, weil das die Sperrmüll-Abfuhr verlangt. Schüsseln und Töpfe, Stühle und Vasen, Regale, Schränke und Rollos. In ihrer Zeit hatten alle Gegenstände einen Gebrauchswert, heute dienen sie nur noch als Zeugen kulturellen Verfalls, von einer Moderne gefressen, die sich längst der Post-Moderne ergab. Es kann vorkommen, dass ein Passant bei genauer Betrachtung der Stokelfranzschen Aussonderungsaktion an die documenta denkt, die bedeutendste zeitgenössische Kunstausstellung überhaupt. Die wird alle fünf Jahre in Kassel zelebriert und unterscheidet sich von Stokelfranz Bemühungen zuerst dadurch, dass sie mit reichlich Geld gesponsert ist. Da lassen sich Staat und Großfirmen nicht lumpen. Termin: 9. Juni bis 16. September 2012. Titel: Zusammenbruch und Wiederaufbau.
Dopingkontrollen gibt es nicht, damit Kreativität ungebremst zur Entfaltung kommt. Nun fragt bei Stokelfranz auch niemand nach Doping, da er kein Auto besitzt, und Kreativität nimmt er für sein müllstapelndes Tun nicht in Anspruch. Nie käme er auf den Gedanken, seinen Nachlass der documenta anzuvertrauen. Hier gibt es für ihn nur eine Adresse: aha, Abteilung Sperrmüll. Soweit der subjektive Faktor. Objektiv muss es aber doch eine Verbindungslinie zwischen documenta und Sperrmüll geben, denkt Lindemann, die Ähnlichkeit der Exponate ist zuweilen einfach zu verblüffend. Und er ist genau so schlau wie zuvor: Wie kann man moderne Kunst erkennen? Wie kann man sie gar erklären?
„Der künstliche, krankhafte und unfruchtbare Charakter der heutigen Kunst liegt daran, daß sie keine Wurzeln mehr im Leben der Erde hat.“ Meinte Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland schon vor bald hundert Jahren und hilft auch nicht weiter.
„Die Leute müssen einen Führerschein machen, wenn sie Autofahren wollen, aber auf die Kunst werden sie einfach losgelassen“, stöhnte der letzte documenta-Direktor Roger Buergel. Lindemann kontert die Arroganz: „Tja, Herr Buergel, es soll Leute geben, die ihren Führerschein im Lotto gewonnen haben, gell? Und wenn er weg ist, gibt es Punkte in Flensburg. Die sehen aus wie gemalt.“ Also, sagt Lindemann, Mut zum eigenen Kunstgenuss. Es muss aber nun wirklich kein röhrender Hirsch über dem Kanapee sein. Was sollen denn die Leute von uns denken…

Ist das Politik, oder kann das weg?

Kersten Flenter

Der arme Teddy“, kommentierte Mittelschmidt, als Stroganow sein Lieblingsplüschtier aus Kindertagen zum Tausch auf die Müllcontainer-Zementbox legte. „Es geht mir nah“, sagte Stroganow, „aber nachdem diese Nazispacken vom Besseren Hannover dauernd mit Bären rummachen, kann ich den nicht mehr ansehen, ohne zu würgen.“
Wir standen am Kiosk und ließen unserem Zorn freien Lauf. Die Arschkrampen hatten sich tatsächlich nach Linden-Limmer und dann noch zum Tag der offenen Tür in die Polizeiwache getraut. „Wo denn sonst?“, erklärte Stroganow, „dort waren sie ja vor einer angemessenen Zuwendung durch die Lindener Bürger geschützt. Normalerweise hätten sie hier sofort auf die Fresse bekommen.“
„Und unser anwesender Innenminister hatte nicht mal einen Salafisten dabei. Sonst hat er die immer schnell zur Hand“, sagte ich. „Tja, durfte die Polizei gerade mal ein Dudu! aussprechen. Die Polizisten tun mir mittlerweile echt leid. In Nordrhein-Westfalen mussten sie letztens sogar verhindern, dass Nazis und Salafisten sich die Köpfe einschlugen – wie grotesk ist das denn? Man hätte sie einfach machen lassen sollen.“ „Ich versteh die auch Aktion nicht“, überlegte Mittelschmidt, „was soll denn daran jetzt Sinn ergeben, dem Schünemann einen ‚Abschiebären’ zu überreichen? Lob für seine Asylbewerberpolitik? Als Provokation kann das ja wohl kaum gemeint gewesen sein. Was haben die sich dabei gedacht?“ „So kommst du nicht weiter“, meinte Stroganow, „Nazis denken ja nicht.“ „Was sind zehn Aktivisten von Besseres Hannover auf dem Leinegrund?“, grinste Mittelschmidt. „Ein guter Anfang“, sagte ich, „der ist doch alt.“ „Haben wir nun ein Nazi-Problem?“, wollte Mittelschmidt wissen. „Nee, wir haben ein Bärenproblem“, bemerkte Stroganow und blickte auf seinen Teddy, „wenn es schon soweit kommt, dass ich wegen dieses Abschaums fast meinen Teddy weggebe. Da wird das Politische viel zu privat.“ „Wenn das Politische nicht privat ist, ist es gar nichts“, sagte ich, als der Kollege von der Müllabfuhr vom Wagen sprang. „Ist das Politik, oder kann das weg?“, fragte er mit Griff nach Stroganows Teddy. Wir standen da und rangen nach Worten.

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