Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Ein Mann macht alles selbst

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Ein Mann macht alles selbst

Preise gibt es, wenn du an der Losbude gewonnen hast, dachte Lindemann bei einem gelegentlichen Rückblick auf seine unbeschwerte Jugend. Wohlige Schauer erinnerten ihn an sonnenbeschienene Jahre, wo die Preise für Dauerlutscher und Eis am Stiel an der Bude auf stabiler Höhe gehalten wurden. Heute sind Preise zum Leistungssport übergelaufen, sie galoppieren oder nehmen einsame Höhen beim Stabhochsprung. Muss Lindemann als Beamter der unteren Laufbahn vielleicht gar noch froh sein, sich einen Gürtel zu leisten, den man bei Bedarf immerhin enger schnallen konnte? Bedarf ist da, aber im aktuellen Wirtschaftsleben steht der kleine Mann doch längst mit nackter Kimme auf der Wiese, einfacher gesagt, im kurzen Gras. Gras ist nahrhaft und gesund, vorausgesetzt man ist Schaf, Ziege oder Kuh. Da würde man gar Fördermittel der Europäischen Union beanspruchen können.
Bei diesen Gedanken traf Lindemann im Hinterhof auf Nachbar Stokelfranz, dem es als Hartz IV-ler auch nicht besser ging. Das ist wie 1 Euro fünfzig in meiner Hosentasche und 1 Euro in seiner, dachte er. Da wurde ein Kneipengang zur olympischen Hürde oder zum Einstieg in die Abstinenz. Stokelfranz breitete Bretter aus, legte Schrauben und Nägel auf seine Werkzeugkiste.
"Schön, wenn man ein nützliches Hobby hat", sagte Lindemann freundlich, um etwas freundliches zu sagen. "Hobby", schnauzte der Nachbar, "von wegen. Das ist nackter Überlebenskampf. Ich baue einen Schrank, weil ich mir fertige Möbel nicht mal vom unmöglichen Schweden leisten kann." "Ja", stimmte Lindemann zu. "Alles wird immer schlimmer. Statt Lohnerhöhungen gibt es inzwischen massenhaft Lohnkürzungen. Dazu die Inflation." Stokelfranz blickte misstrauisch. "Einige haben aber auch echte Erhöhungen. Keine Angst, ich denke nicht an Beamte."
"Sie denken an Manager", vermutete Lindemann, den die 73 Millionen Euro Jahresgage des Porsche-Managers Wiedeking schwindelig gemacht hatte. "Dazu Lokführer, Ärzte und Piloten", verkündete Stokelfranz.
"Die haben es aber auch verdient", meinte Lindemann versöhnlich. Stokelfranz schaute böse. "Hat es die Putzfrau nicht verdient? Oder der Müllwerker, die Verkäuferin? Haben es nicht alle verdient, die arbeiten oder nicht arbeiten dürfen?"
Lindemann fühlte sich ideologisch überrollt. "Das ist Klassenkampf-Denken", belehrte er den Nachbarn. "Wer macht denn hier Klassenkampf", rotzte der zurück. "Ich - oder die da oben?" Lindemann ahnte, dass er in diesem Moment als Beamter an der Grenze seiner freien Meinungsäußerung angekommen war. Doch Stokelfranz setzte noch einen drauf. "Wenn sich alle mal wehren, die heute über den Tisch gezogen und ausgepresst werden, dann stehen die da oben im kurzen Gras."
"Wie stellen Sie sich das vor", spielte Lindemann den Ball zurück, um eine eigene Vorstellung zu vermeiden. "Wie in Frankreich", konterte der Nachbar. "Die Franzosen gehen regelmäßig auf die Barrikaden." "Die Franzosen essen auch Frösche", belehrte Lindemann. "Bei den Preisen essen wir bald noch etwas ganz anderes", vermutete Stokelfranz.
Lindemann zog sich mit einem freundlichen Gruß zurück. In der Nacht träumte er einen Albtraum. Im Baumarkt hatte er sich Bretter und Schrauben gekauft, um kostengünstig zu einem neuen Kleiderschrank zu kommen. Fertiggestellt sah das Möbel wie eine Mini-Hütte aus, Eingang vorn.
'Dabei habe ich doch alles nach Plan gemacht', stöhnte er verzweifelt. Der unvermeidliche Nachbar Stokelfranz stand feixend daneben. 'Das war der Plan für eine Hundehütte. Sie hätten vorher ein paar Frösche essen sollen. Übrigens: Chinesen essen sogar Hunde.' Klar, das dort jegliches Aufbegehren streng verboten ist.
Als Lindemann schweißgebadet erwachte, beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Ich brauche überhaupt keinen neuen Kleiderschrank!

von Hans-Jörg Hennecke

Ich weiß, das Stroganow nichts weiß, sagte schon Sokrates

"Haben wir es gewusst?" "Haben wir." "Ich meine - haben wir es gewusst oder haben wir es gewusst?" "Gewusst haben wir`s!" "Genau." "Und was nützt uns die Besserwisserei jetzt?" "Nichts!" "Genau." "Aber es hätte ja auch klappen können." "Na klar. Wenn an einem Sonntag die Sonne scheint und am Montag der Herr Mon kommt und man am Dienstag Dienst hat und Mittwoch die Mitte der Woche ist, wenn es dann noch am Donnerstag donnert und ich am Freitag frei habe, dann kommt am Samstag Carlyle und saniert das Ihmezentrum. Wer daran glaubt, hat auch vielleicht wirklich geglaubt, die bauen das Ding zu Ende. Halt mal die Bohrmaschine." Stroganow drückte mir die Hilti in die Hand und drückte den Dübel in die Wand. "Entschuldige bitte, wenn ich etwas kritisch erscheine, aber meinst du wirklich, dass der Dübel in diesem Kratertrichter hält?" "Muss er. Das ist jetzt das vierte verunglückte Loch. Die Wände in diesem Bau sind einfach unter aller Sau." "Vielleicht solltest du, statt alles selbst zu machen, jemanden fragen, der sich damit auskennt?", argwöhnte ich. Stroganow prokelte eine Schraube in den Dübel, der sogleich mitsamt Inhalt aus der Wand fiel. "Ich glaub, ich mache morgen weiter", seufzte Stroganow. "Na, du weißt doch, was aus solchen Sprüchen wird. Häng lieber einfach ein Bild über die Löcher und vergiss dein Vorhaben."
"Niemals. Ich habe Bülent Mittelschmidt versprochen, ihm dieses Bücherregal anzubringen, und auf mein Wort ist Verlass." "Und warum macht Mittelschmidt das nicht selbst?" "Keine Zeit. Er macht gerade ein Praktikum und ist jeden Tag bis spät in die Nacht beschäftigt." "Wozu braucht er denn ein Bücherregal, wenn er gar keine Zeit zum Lesen hat?" "Es kommen ja auch wieder bessere Tage. Übernommen wird er sowieso nicht." "Schon klar. Was für ein Praktikum ist denn diesmal?" "Immobilienmanagement." "Ein Beruf ohne Zukunft. Er sollte sich auch Abrissunternehmertum spezialisieren." "Das ist doch das gleiche. Ich habe ihm ja geraten, sich an den soziologischen Trends zu orientieren, wenn es um die Berufswahl der Zukunft geht. Was kommt nach der Informationsgesellschaft, hä?" "Du meinst die Wissensgesellschaft?" "Genau, also?" "Ganz klar, die verblödete Gesellschaft, also die Nichtwissensgesellschaft." "Exakt. Wir sind schon mittendrin. Und was muss man tun, um mit Nichtwissen Geld zu verdienen?" "Paris Hilton vögeln?" "Guter Vorschlag, aber das reicht in der Regel nicht für eine Festanstellung." "Dann weiß ich es auch nicht." Und wieder einmal waren wir uns alle einig. Man kann aus einem Betonklotz mit Wohnungsprostitution und Kinderpflegedienst keinen Park machen, und man kann in Mittelschmidts Wände keine Löcher bohren. Und wenn der Samstag wieder Sonnabend hieße, dann bräuchten wir auch kein Sams. "Hättest du das gewusst?", wollte Stroganow wissen. "Hätte ich", sagte ich.

von Kersten Flenter

<-- zurück

Impressum / Datenschutz