Lindemann & Stroganow

Mein analoges Leben / Linden im Regen

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Linden im Regen

Von Hans-Jörg Hennecke

Natürlich muss es auch mal regnen. Die Landwirtschaft braucht den Regen, die Straßenbäume können ohne ihn nicht leben und Staub bindet er auch. Also ist Regen eine nützliche Sache, rein objektiv betrachtet. Subjektiv sieht das ganz anders aus. Als Lindemann jüngst seine persönliche Butjerroute durch Linden ablief, machte er planmäßig auf einem der drehbaren Holzsessel am Küchengarten Rast. Obwohl Lindemann ihn nicht angeschaut hatte, verdüsterte sich der Himmel im Eiltempo. Grauschwarzes Gewaber bedeckte Linden und der Wind trieb damit ein wollüstiges Spiel. Die Menschen wurden zusehends schneller, an der Gaststätte „Linden Journal“ bildete sich ein Stau und Lindemann verfluchte den Tag, an dem die Fußgängerbrücke abgerissen wurde. In zweiter Linie war sie immerhin auch ein tauglicher Regenschutz. Tragbaren personengebundenen Regenschutz hatte Lindemann nicht bei sich und als die ersten fetten Tropfen fielen, wusste er, dass man diese Situation nicht ignorieren durfte.
Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Lindemann besuchte eine literarische Lesung. Den lesenden Autor kannte er nicht. Es lag am Regen und es lag am zufälligen Standort Lindemanns. Da ist das Theater am Küchengarten beheimatet. Also rein ins TAK. Der Autor las Texte, die Lindemann gefielen. Es ging um die alltäglichen Probleme im menschlichen Leben. Ärger mit Vorgesetzten, Nachbarn und der Verkehrspolizei.
So entspann sich bei einer Verkehrskontrolle ein grandioser Dialog.
Polizist: Bitte Ihren Führerschein und den Kraftfahrzeugschein.
Fahrer: Ich habe gar keinen Führerschein.
Frau (auf Beifahrersitz): Glauben Sie ihm kein Wort, der ist total betrunken.
Sohn (Rückbank links): Und bekifft. Meinen letzten Joint hat er ...
Oma (Rückbank rechts): Ich habe es gewusst: Mit einem geklauten Auto kommt man nicht weit.
Lindemann dachte, dass im Text viel Lebensweisheit steckte. Wenn es dich trifft, trifft es dich ganz und mit voller Wucht. Die engste Verwandtschaft reißt dich rein, nur weil eine Uniform auftaucht.
Rechtzeitig zum Programmende hatte es aufgehört zu regnen. Lindemann ging an der Limmerstraße schmunzelnd auf einen Uniformierten zu. „Ich habe gar keinen Führerschein, lieber Polizist“, raunte er dem zu. „Und deshalb gehen Sie bei roter Ampel?“ Der Mann zog einen Quittungsblock aus der Tasche. „Das wird Ihnen zehn Euro wert sein?“ Zähneknirschend zahlte Lindemann. Zum Abschied zischte er: „Ich habe doch einen Führerschein.“ Der Uniformierte nickte. „Und ich bin gar kein Polizist, bin von der Heilsarmee. Danke für die Spende.“ Zehn Euro Lehrgeld für eine wichtige Erkenntnis: Die Wirklichkeit ist doch immer farbiger, als jede Erfindung.

Mein analoges Leben

von Kersten Flenter

Es regnet, jemand geht den Kötnerholzweg hinunter und wird nass. An einem uns wohlbekannten Kiosk steht ein anderer Mensch und trinkt Bier. Er könnte natürlich auch etwas anderes trinken. Aber der Mensch bin ich selbst, und der, der jetzt hinzukommt, ist Bülent Mittelschmidt.
Mittelschmidt erzählt, er habe gerade einer Tagung beigewohnt und ein interessantes Referat gehört. Ein Medienpädagoge klärte Mittelschmidt und die anderen Teilnehmer darüber auf, dass Atome und Bits immer mehr verschmelzen. „Die wirkliche Welt und die virtuelle vermischen sich, und heraus kommt dann so was wie Daniela Katzenberger oder so. Und ‚Tote Briefkästen’ sind heutzutage nicht mehr irgendwelche konspirativen Verstecke in hohlen Eichen, sondern USB-Sticks, die in Mauern einzementiert werden. Da kann man dann sein Notebook anschließen und Daten tauschen.“ „Das ist ja echt knorke, Mittelschmidt“, staunt Stroganow und riecht an einer Mohrrübe.
Ich habe heute mit Ina geschlafen und einen Teller Rote Linsen- Suppe gegessen, und jetzt spüre ich gerade essentielle Körperfunktionen. Aber auch ich habe ein aktuelles Erlebnis zum Thema beizusteuern. Letztens gingen Ina und ich an Achims Antiquariat vorbei. Zwei Typen Ende zwanzig standen davor und starrten in die Auslage mit Büchern, bis einer schließlich sagte: ‚Es gibt Leute, die lesen gern von Papier.’ „Ah, genau, das ist auch so’n Punkt“, erklärt Mittelschmidt, „da gibt es jetzt auch so elektronische Kugelschreiber, mit denen schreibt man auf sein Display und ne Software wandelt das gleich in Text um.“ „Aber wenn ich mit meinem analogen Kugelschreiber auf Papier schreibe, muss das nicht erst in Text umgewandelt werden, sondern ist gleich einer“, wundere ich mich. „Du verstehst das nicht. Du mit deinem Papierfetischismus legst haufen- und kilometerweise Akten an, die nicht nur Platz wegnehmen, sondern schwer zu durchsuchen sind. Wenn du stattdessen eine Datei anlegst, kannst du das was du suchst, viel leichter wiederfinden.“ „Bullenkot“, sagt Stroganow, „diese ganze Archivierwut geht mir eh auf’s Gemächt. Seit der Erfindung von Digitalkameras und Fotohandys bannt jeder jede Minute seines Lebens in irgendeine Datei und freut sich, dass die gar keinen Platz wegnimmt. Nur dass wir bei der ganzen Sammelei keine Zeit mehr haben, unsere Fotos jemals wieder anzusehen. Und wenn wir es täten, würden wir feststellen, wie erbärmlich und ereignislos unser Leben tatsächlich ist. Was nützt es mir denn, wenn meine Archive ganz leicht zu durchsuchen sind, wenn ich keine Zeit und keinen Grund habe, nach etwas zu suchen?“
„Genau, ganz ohne Akten geht’s nicht“, behaupte ich jetzt, „und außerdem machen papierne Akten viel mehr Spaß.“ „Finde ich auch“, überlegt Stroganow. „Nimm den Wulff. Der ist letztendlich über ganz normale, analoge Papierakten gestolpert. Was für ein Spaß!“
Von Zeit zu Zeit kommt man an einen Punkt zurück, wo man sich kindliche Fragen stellt, wie zum Beispiel: „Was soll das eigentlich?“ Mir jedenfalls fällt gerade die Linsensuppe von heute Mittag ein. Die Antwort, mein Freund, bläst ganz allein im Wind.

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