Lindemann & Stroganow

Bier macht müde / Happy Birthday, Agendada …

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Happy Birthday, Agendada …

von Kersten Flenter

Es ist still geworden um Steinbrück, aber das ist bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm. Wahrscheinlich feiert er den ganzen März durch mit dem Managerkreis der Friedrich- Ebert-Stiftung das 10-jährige Erscheinen der Agenda 2010. „Was war das denn?“, fragt Mittelschmidt ernsthaft, dieser Jungspund. Da wird mir ganz wehmütig ums Herz. Schauen wir zurück: Gerade mal 15 Jahre ist es her, dass wir alle noch riefen „Der Dicke muss weg!“, und dann bekamen wir den späteren Gazprom- Gerd. Was waren wir doch naiv und bescheuert. Da dachten wir, die soziale Kälte im Land sei nach Kohl nicht mehr zu toppen, und dann ging der Raubbau am Sozialstaat erst los. Agenda 2010, die Hartz- Gesetze, der Abbau der öffentlichen Daseinsfürsorge, kapitalgedeckte Altersvorsorge … alles was der Dicke sich nicht getraut hat, haben die neoliberalen Blutsauger um Schröder herum ganz locker aus dem Ärmel geschüttelt, und wir sind alle mitgerannt. Und jetzt schaut mal hin, am 14.3. trifft sich die ganze Bagage in Berlin, um den Skandal zu feiern. Sie sind alle dabei: Gerhard Schröder, Bundeskanzler a.D., Bert Rürup, Gabor Steingart, Edmund Stoiber, Martin Kannegiesser. Und keine geringere als die ehemalige Sonntagabendklofrau der Nation, Sabine Christiansen, moderiert die Party. Prost! „Wer hat uns verraten, Soz…“, skandiert Mittelschmidt genüsslich, aber Stroganow fährt ihm gerechterweise über den Mund. „Schnauze, Mittelschmidt!“ Das ist okay, was kratzt uns die große Politik, das Land ist abgefrühstückt, Papst sind wir auch nicht mehr. Und jetzt stell ich fest, dass ich seit einigen Jahren mit Nazis kooperiert habe, obwohl ich nicht mal für den Verfassungsschutz arbeite. Es reicht ja aus, seine Bücher im Internet zu kaufen. Mittelschmidt denkt, er müsse intervenieren: „Pöh! Es merkt doch jeder in Verschwörungstheorien halbwegs geschulte Mensch, dass es sich bei den Nazis, die die Arbeitslager von Amazon bewachen, in Wahrheit um V-Leute der analogen Buchhändler handelt. Eine fulminante Image-Kampagne des Buchhandels ist das, mehr nicht!“ „Du spinnst doch, Mittelschmidt“, sage ich, und Stroganow ergänzt, dass Nazis eben gern für Wachdienste arbeiten, denn das gibt ihnen die Möglichkeiten, ihresgleichen Eintritt Events zu verschaffen, auf denen sie nicht gern gesehen sind, in Fußballstadien zum Beispiel. Ich bin trotzdem verzweifelt. Immerhin verkauft Amazon auch meine eigenen Bücher, und keiner meiner Verlage wird die Eier haben, die nicht mehr zu beliefern. Auch wenn ich selbst zum Bücher kaufen in die Buchhandlungen renne, ich komm aus dem Schlamassel nicht raus. „Nun ja, gegen die Arbeitsbedingungen bei Amazon ist DEIN Versklavtsein eher zu vernachlässigen“, meint Stroganow. Recht hat er. Ich bin ja kein Sklave, ich bin frei. Wie wusste schon Rousseau: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ Aber dazu muss ich wissen, wer hinter den Dingen steht, die ich nicht tun will. Bei allem was wir kaufen, kaufen wir ein krankes System gleich mit, das ist schon klar. Und doch gibt es noch ein falsches Leben im falschen. Ich kauf mir jetzt erstmal ne Lasagne.

Bier macht müde

Von Hans-Jörg Hennecke

Zwei Seidel Bier, drei Seidel Bier –
Ich trinke lieber fünf als vier.
Und wenn man dazu raucht und schwätzt,
Trinkt man noch eins zuguterletzt,
Geht heim vergnügt und legt sich nieder
Und denkt: So mach ich’s morgen wieder.
Hoffmann v. Fallersleben

Stokelfranz strahlte über alle Backen und hielt Lindemann einen vergilbten Druck entgegen. „Sieh an, sieh an, der Fallersleben. Macht sich mit der Nationalhymne wichtig für jedes Lexikon, und war doch ein ganz normaler Mensch.“ Stokelfranz nickte. „Habe ich auf dem Flohmarkt erworben. Für 2 Euro.“ Lindemann war nicht ganz zufrieden. „Ist Hoffmann von Fallersleben wieder zitierfähig? Die Grenzziehung bei Maas und Memel, Etsch und Belt folgte zu seiner Zeit zwar nur der deutschen Sprachgrenze. In Zeiten einer problematischen Europäischen Union wird das aber fragwürdig. Sehen Sie: Die Maas fließt in Holland, die Etsch in Italien, der Belt – nun ja, das dürfte Dänemark sein. Und die Memel strömt doch wohl durchs Baltikum.“ Stokelfranz verbarg sein Schild schützend unter dem Mantel und wurde trotzig. „Und das Bier floss durch seine Kneipe und nun eben durch meine Küche. Da kommt das Schild nämlich hin. Über den Kühlschrank. Trotz Europäischer Union.“
„Trinkt doch kaum noch jemand Bier“, rief Lindemann dem Nachbarn hinterher. „In Deutschland sinkt die Menge von Jahr zu Jahr.“
Nachdenklich ging er die Treppe hinauf, wobei er Oma Kasten aus dem ersten Stock traf. „Ich muss noch mal los“, verkündete die. „Mein Bier ist alle.“ Lindemann stutzte. „Sie trinken Bier?“ „Natürlich, Sie etwa nicht?“ „Doch, aber die Deutschen trinken immer weniger. Die Lindener Brauerei ist schon lange weg.“ Oma Kasten setzte eine wichtige Miene auf. „Ich kann viel besser schlafen, wenn ich abends ein Glas Bier trinke. Das ist ja nur eine halbe Flasche. Die andere Hälfte kommt am nächsten Tag dran.“ Aha. Nun wusste Lindemann, wo die deutsche Durchschnittsmenge her rührte. Bier war zum Schlafmittel degeneriert. Wer schläft sündigt nicht. Der schwafelt nicht von Maas und Memel. Der weiß nicht einmal, was das ist und wo das ist. Lindemann setzte sich zu seiner Bierkiste und kam ins Philosophieren: Wenn das letzte Bier ausgetrunken ist, werden die Deutschen merken, dass Mann Milch nicht trinken mag und Wasser längst großen Konzernen gehört.
Lindemann konnte danach gut schlafen. Er träumte, dass Bier in den Kneipen verboten wurde und nur noch vor der Tür getrunken werden durfte. Klüger, dachte er, klüger ist die Menschheit seit Hoffmann von Fallersleben auch nicht geworden.

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