Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Liebe und Lethargie

von Kersten Flenter

„Wo ist Mittelschmidt?“, fragte Stroganow und blätterte beiläufig in der neuen Ausgabe von Lethargie und Phlegma, die er immer für einen speziellen Kunden mit einem Exemplar bezog. „Nicht angrabbeln, sonst musst du sie kaufen. Es ist Mai. Mittelschmidt ist verliebt“, sagte ich. „Mittelschmidt ist nach dem 1. Mai immer verliebt.“ In der Tat, dies ist Mittelschmidts ureigene Form der Traditionsbildung. Die jährliche Erinnerung an das Scheitern des Projektes Arbeit und Menschenwürde tangiert ihn nur mittelbar, er nutzt den Mai-Feiertag in erster Linie zur Pflege individueller Nähebedürfnisse und legt sich daher lieber auf die Faust-Wiese statt auf dem Klagesmarkt am Bratwurststand zu stehen. „Spar dir das jährliche Jammern“, errät Stroganow meine Gedanken, in diesen Zeiten kollektiver Gefühlslähmung ist Liebe machen der einzig verbliebene subversive Protest.“ „Du Hippie“, beschimpfte ich ihn, „die Chose ist vierzig Jahre her.“ Du meinst Petra, meine Sandkastenliebe aus der Siedlung?“ Stroganow seufzte. Ich rollte die Augen nach innen. Waren jetzt alle in meiner Umgebung sentimental geworden? Selbst die studentische Partyfraktion meiner Bekannten fand mittlerweile Ausflüge nach Berlin oder Hamburg am 1. Mai zu spießig (da gab ich ihnen mal Recht) und bewaffnete sich lieber mit 5-Euro-Einweggrills am Leineufer. „Grills sind okay“, sagte Stroganow. „Sag mal, weißt du eigentlich immer, was ich denke?“ „Das ist mein Job“, erklärte Stroganow, „gibt schlimmere.“ Das stimmte. Neulich fand ich bei meiner Jobrecherche im Internet ein Stellenangebot als Hühnerfänger auf einer Geflügelfarm. Ich hatte mir eine Bewerbung verkniffen. Auch die romantische Vorstellung, sich von ganz unten hochzuarbeiten, vielleicht zum Hühnerfängervorarbeiter, hatte seine Grenzen. In diesen Zeiten der grenzenlosen Flexibilitätsanforderungen hatte es keinen Sinn mehr, auf Karrieren zu setzen. „Die Idee mit dem Liebe machen ist vielleicht gar nicht so dumm“, überlegte ich laut, als Mittelschmidt, dümmlich grinsend, um die Ecke kam, im Arm einer dunkelhaarigen kleinen Frau. „Das ist Maria“, erklärte er stolz. Maria kam aus Thessaloniki. Mittelschmidt, dieser Fuchs. Kaum gehörte uns Griechenland, ließ er den dicken Max raushängen. „Na und?“, raunzte Stroganow, „Griechenland ist doch eine Option. Schau mal hin. Da regen sich die Leute noch auf. Da passiert was auf den Straßen. Da ist was los.“ „Hier doch auch“, sagte ich, und beobachtete, wie eine Nacktschnecke eine schleimige Spur über das Pflaster vor Stroganows Kiosk zog.

Selbstgestrickt

von Hans-Jörg Hennecke

Lindemann hatte über längere Zeit verdrängt, daß sich seine Freundin sichtlich einem neuen Hobby ergab. Immerhin war sie dadurch häuslicher geworden, schwieg zumeist, weil sie sich auf mittelschwere Rechenaufgaben konzentrieren musste und machte insgesamt einen ausgeglicheneren Eindruck. Wie immer hatte diese erfreuliche Seite natürlich auch eine Kehrseite. Als Lindemann das erste Mal über ein gespanntes Seil im Wohnzimmer stolperte, glaubte er noch an das Unglaubliche: einen geplanten Anschlag auf seine Gesundheit oder gar sein Leben. Aber es war nur ein gelber Wollfaden, der auf der einen Seite in einem Knäuel von Seinesgleichen endete, auf der anderen an vier Stahlstricknadeln, die auf dem Tisch lagen und in einem runden Strickwerk mündeten. Lindemann hatte so etwas das letzte Mal in der Kindheit gesehen, als seine Oma ähnliche Produkte fertigte, die ihm schließlich als Pullover angezogen wurden und die familiäre Fachwelt zum Staunen brachten. Lindemann bewahrte an die gute alte Zeit ein ungutes Gefühl, waren die Pullover doch zumeist kratzig, weil aus guter Schafwolle gestrickt. Er beneidete damals die ärmeren Nachbarkinder, die in billigen baumwollenen Pullis durch die Gegend tobten. Sichtliche Begeisterung löste das neue Hobby bei den beiden hauseigenen Katzen aus, die sich auf endlose Kämpfe mit dem Wollknäuel einließen. Für die Krallenträger schien die gebündelte Wolle eine eigenständige Lebensform zu sein. Das fertige Produkt fand dann aber kein Interesse mehr, war es doch eindeutig für Lindemann bestimmt. Vielleicht befürchteten die Miezen auch nur, eines Tages ihre Samtpfoten in Selbstgestrickten geborgen zu sehen.
Socken, bunt, reine Kunstwerke. Lindemann dachte daran, daß er Socken bisher im Zehnerpack für einen Euro je Paar erworben hatte. Seine neue Fußbekleidung benötigte zu ihrer Fertigung mindestens zwei Tage. Was blieb da an Stundenlohn, wenn man noch die Materialkosten abzog? Musste nicht endlich der Mindestlohn her, um derart ausbeuterische Verhältnisse zu beenden? Was sagte die Gewerkschaft der Strickerinnnen zur speziellen Lage?
Lindemann wandte sich an die hauseigene Expertin: Oma Kasten aus dem ersten Stock. „Nein, nein, Herr Lindemann. Das ist doch ein Hobby, da kann man keinen Stundenlohn berechnen. Da steckt viel Liebe drin. Hobby und Beruf darf man nie verwechseln.“ Lindemann wurde gedankenschwer, weil ihm die hochbezahlten Profis von Hannover 96 einfielen. Wie war es bei denen mit der Liebe? Vielleicht sollten die auch lieber...? Oder hatten die schon längst und wurden nur mit der falschen Elle gemessen? Immerhin, tröstete er sich: beim Stricken gibt es keine 2. Liga.

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