Lindemann & Stroganow

Müßige Beobachtungen an freien Vormittagen im Stadtteil / Schnäppchenjäger

Gelesen von Kersten Flenter und Hans-Jörg Hennecke

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Müßige Beobachtungen an freien Vormittagen im Stadtteil

Kersten Flenter

Was dem Hamburger Ottensen und dem Berliner der Prenzlauer Berg ist dem Hannoveraner sein Linden. Man erkennt die Prenzlbergisierung des Stadtteils deutlich an der Dichte paarweise telefonierender Mütter mit Kinderwagen pro Quadratkilometer, sagt Stroganow, und da kann ich ihm nur beipflichten. Der Prototyp der Generation Wickeltasche, oder wie immer Buchtitel heißen mögen, in denen gelangweilte Akademikerinnen mit putzigen Anekdoten über das Leiden der Endzwanzigerinnen schreiben, ist meine derzeitige Lieblingsmutter: Hoch ausgebildet, natürlich, aber rein pragmatisch gesehen macht es schon Sinn, dass halt SIE dann die Elternzeit nimmt, später will sie aber auf jeden Fall dann auch wieder, undsoweiterundsofort. Ich will das eigentlich gar nicht wissen, aber seit einigen Wochen begegne ich ihr immer wieder, ob beim Spazierengehen an der Leine, bei Rossmann oder im Café. Das Handy scheint an ihrem Ohr festgewachsen zu sein; sie telefoniert immer, und immer geht es um das Kind und das Management all der Erfordernisse, die eine Elternschaft so mitbringen: PEKIP-Termine, Geburtstagsfeiern, Krabbelgruppen und Elterninitiativen, Chinesischunterricht für Kleinkinder etcetera. Ich habe volles Verständnis dafür, dass es viel über ein Kind zu erzählen gibt, oh ja, und das nicht nur in den ersten beiden Lebensjahren. Aber es könnte doch verdammt nochmal nicht schaden, wenn sie auch mal MIT ihrem Kind spräche statt über es, das gerade den Bio-Laden zusammenbrüllt. „Also, vielleicht ist ja die Herdprämie doch eine gute Idee“, überlegt Stroganow, „man sollte die Entscheidung, wer sein Kinder zu Hause betreut, nur nicht den Leuten selbst überlassen.“ „Wem sonst? Dir vielleicht?“, erwidere ich skeptisch. Stroganow lächelt sanft (ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit ihm los ist), denn wir sind uns natürlich einig: das Betreuungsgeld ist, das beweisen Studien, das wissen eigentlich alle mit einigermaßen gesundem Menschenverstand, außer der CSU, mindestens Humbug, mithin kontraproduktiv. Warum also hält Seehofer daran fest. Will er endlich diese unsägliche Koalition zum Ende bringen, oder steckt, und das ist Stroganows Vermutung, doch mehr dahinter, ein perfider Plan, der vorsieht, dass die bildungsfernen Schichten sich die 150 Euro abgreifen, um die Tabakindustrie zu stärken? Wer weiß denn schon, welche Lobbyisten in den Hinterzimmern der Parlamente gerade Gesetzesentwürfe im Sinne ihrer partikularen Interessen schmieden?
Ich stutze und revidiere sogleich meine Ansichten über prenzlbergisierte Eltern. Schauen wir uns Mittelschmidt an – der hat auch sämtliche Experimente frühkindlicher Erziehungskonzepte durchlaufen, und hat es ihm geschadet? Natürlich. Stroganow und ich fordern eine Nerd-Prämie: Kinder sollten schon mit spätestens einem Jahr ins Internet abgeschoben werden, in die gute alte virtuelle Welt.

Schnäppchenjäger

von Hans-Jörg Hennecke

Früher unterschieden sich die Parteien noch beim Grundsätzlichen“, dozierte Lindemann im Treppenhaus, als er die nichtssagende Glanzbroschüre einer staatsfinanzierten Dreibuchstabenorganisation aus dem Briefkasten zog. Nachbar Stokelfranz nickte. „Freibier oder Sozialismus, so gegensätzlich waren damals die Standpunkte“. Lindemann meinte, die Alternative hätte anders gelautet, aber er konnte sich nach der langen Zeit auch nicht mehr genau erinnern. Ging es nicht um Rauchen oder Nichtrauchen? Herrenhäuser oder Lindener? Alles längst entschiedene Fragen, die keinen mehr aufregten. Man rauchte eben und trank Herri, so war die Lindener Welt nun mal gehäkelt.
Oma Kasten aus dem ersten Stock startete derweil ihren Marktroller, um den wöchentlichen Schnäppchen der Supermärkte nachzujagen. Entschlossen schwenkte sie die bunten Werbeblätter, die als Beilagen einigen aktuellen Zeitungen eine Optik vermittelten, als seien sie schwanger.
„Die Beilagen sind dicker als die Zeitung“, verkündete die alte Dame. Die Männer nickten, aber Oma Kasten nahm ihnen sogleich jeden Wind aus den Segeln. „Das ist gut für uns Kunden. Da wissen wir, wer die besten Angebote hat. So geht man mit mündigen Verbrauchern um.“ Mitleidig schaute sie auf die Partei-Broschüre in Lindemanns Hand. „Glauben Sie, da ein Schnäppchen zu finden?“
Lindemann schüttelte den Kopf. „Eher nicht.“ Stokelfranz wurde gleich wieder maßlos. „Für die sind wir die Schnäppchen.“ Oma Kasten klärte entschlossen auf. „Man sollte die aber nicht verdammen. Die werden doch auch gebraucht. Stellen Sie sich vor: Ohne Parteien müssten wir Bürger die Politik selber machen. Also, für mich wäre das nichts.“
„So habe ich das noch nie gesehen“, bekannte Lindemann. Stokelfranz lachte sich hinter vorgehaltener Hand schlapp. Als die Nachbarin mit ihrem Fahrzeug auf der Piste verschwunden war, zeigte er auf die Partei-Werbung. „Die Alte liegt richtig. So muss man das mit den Parteien sehen.“ Lindemann staunte. „Das sind ja ganz neue Töne von Ihnen. Sie hauen doch sonst drauf, wo eine Partei auch nur ihren ersten Buchstaben zeigt.“ „Eben“, bestätigte der Nachbar. „Wen sollte ich denn sonst für meinen Ärger verantwortlich machen, wenn da nicht die Parteien wären? Die stellen sich doch mit breiter Brust in die Schusslinie. - Können Sie mir mal die Broschüre ausleihen?“

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