Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Und er bewegt sich doch

von Hans-Jörg Hennecke

Eigentlich ist es noch gar nicht so lange her, daß wir uns Briefe schrieben, zu Festtagen und aus dem Urlaub Postkarten und zu ganz besonderen Anlässen sündhaft teure Telegramme. Wirtschaftswunderlicher Wohlstand drückte sich im Besitz eines VW-Käfers aus, an dem auch Laien vieles selber reparieren konnten. Riß der Keilriemen, und das tat er gern und oft, reichte ein Damenstrumpf als allbekanntes Provisorium für den kompletten Resturlaub. Kein Mann, der das nicht meisterte. nachdem er feststellte, daß sich der Motor mit Lichtmaschine hinten befand und der Benzintank vorn, wo er den Duft seines damals preisgünstigen Inhalts an das spärliche Gepäck weitergab, das wir uns für die Erholungsreise leisten konnten.
Was wir erlebten wurde fotografiert, der Rollfilm schließlich in eine Drogerie gebracht und das Abholdatum gestaltete sich zum Feiertag. Verwackelte Aufnahmen wurden nicht kritisiert, sondern mit einem "Schau mal, Gerti und Hans am Mittelmeer. Wie blau das ist..." kommentiert. "Wie blau der ist, heißt das", knurrte dann irgendein Schlaumeier vom Typ Stokelfranz. Blau wie das Mittelmeer waren Käfer-Touristen auch ohne Ballermann, denn Wein war für Nordlichter ein ungewohntes Getränk und in Ländern unter praller Sonne einfach spottbillig.
So plätscherten die Jahre dahin und die Menschen waren mit 45 alt, weshalb sie mit 65 in Rente geschickt wurden. Das ist längst vorbei. Die Rente gibt es mit 25 und heißt nun Hartz IV. Alt wird keiner mehr, bestenfalls Senior. 80jährige sehen aus wie ihre Ahnen mit 50. Events umkränzen das Dasein. Das Niedagewesene wird zur Norm. Jedes Jahr braucht seine eigene Krönung. Weltmeisterschaft, Prinzenhochzeit in Monaco und Liechtenstein oder ein handaufgezogenes Babytier, das der festen Überzeugung ist, gerade die Evolutionsstufe zum Menschen zu nehmen. Gibt es noch Meinungen? Manche Leute sind stolz darauf, ihre heutige Meinung schon vor 20 Jahren gehabt zu haben. Manche Meinungsfesten sind tragische Mumien, die immer wußten was kam und an nichts Anteil hatten. Lindemann hingegen schließt nicht aus, in 20 Jahren wiederum eine andere Meinung zu haben, wenn es dann noch Meinungen gibt.
Nur die Erde macht, was sie seit Milliarden Jahren immer gemacht hat. Sie dreht sich mit mehr als Schallgeschwindigkeit um die eigene Achse und rast dabei mit über 100.000 Stunden-Kilometern elliptisch um die Sonne. Nicht vorstellbar? Nun, das sind fast 30 km pro Sekunde. Auch der Mensch an sich, der alte Unhold, ist tief in seinem Innersten der gleiche geblieben. Der trinkt immer noch Bier und Wodka und einige qualmen gar Tabakstängel, obwohl das verboten ist. Aber er bewegt sich: mit der unvorstellbaren Geschwindigkeit seines Heimat-Planeten.

Sphären fortschreitender Verblödung

von Kersten Flenter

"Mein Kiosk kann fliegen", sagte Stroganow, als ich gerade in einer Tageszeitung vom Tod Jörg Haiders las. War Haiders Autounfall ein Zufall, oder hat er sich bewusst aus dem Staub gemacht? Schon ein Landsmann von ihm, der Sänger Falco, hatte seinerzeit, da war zumindest unser Verschwörungsexperte Stroganow sicher, stilsicher seinen eigenen Tod per Autounfall inszeniert. Ohne den Nazi mit dem talentierten Sänger in einen Topf werfen zu wollen, besteht zumindest auch bei Haider die Möglichkeit, dass er in Dinge verstrickt war, von denen wir lieber nichts wissen. Denken Sie an Barschel. Zur Zeit der Börsencrashs ließen sich Möglichkeiten für Haiders Abgang zuhauf finden. Und das mit dem zu schnellen Auto und den 1,8 Promille - da hat sicher jemand an den Bremsen gespielt und ihm den Alkohol heimlich inji- ziert. "Sag mal", falle ich Stroganow in die Gedanken, "reicht es nicht einfach, dass Haider weg ist? Können wir uns nicht einfach auch mal freuen, ohne gleich garstige Hindergedanken zu hegen? Dein Kiosk kann also fliegen. Das ist doch auch was."
"Ja, mein Kiosk kann fliegen", freute Stroganow sich. "Wie heißt diese neue Droge, die du da eingeworfen hast?", frage ich neugierig. "Das Weltall - unendliche Weiten!", sinniert Stroganow, "es ist gut, ein bisschen weltentrückt zu werden, oder?" "Wir brauchen alle mal Urlaub", warf ich ein. "Es geht um mehr, du Hasenhintern. Es geht darum, mal Abstand zu gewinnen von unseren eingefahrenen Sichtweisen. Jetzt, wo die Banken und Börsenmakler mal endlich als das wahrgenommen werden, was sie sind, nämlich Jongleure virtueller Werte; jetzt wo die Leute auf einmal wieder anfangen, Marx zu lesen und den Sparstrumpf aus der Wäschetruhe holen, da brauchen wir mal eine Änderung des Blickwinkels. Diese neue Substanz, die mein Freund Mittelschmidt jüngst bei einem Praktikum in einem chemischen Labor entdeckte, wird uns dabei helfen. Du kannst sie rauchen, trinken, inhalieren oder in Baumkuchen einbacken. Ich verkauf Dir das Zeug zum Vorzugspreis."
"Danke", sagte ich, aber ich versuche lieber mal, einen klaren Kopf zur Analyse des bizarren Weltgeschehens zu behalten." Stroganow schüttelte sich vor Lachen, und mir war nicht klar, ob es an der Droge oder meiner Äußerung lag. Er half mir auf die Sprünge.
"Ein klarer Kopf ist genau das, was uns die Vertreter der Finanzwelt auch immer vorgau- keln. Vorgeblicher Realitätssinn, Geschwätz von Globalisierung, der wir uns stellen müssten, ihre vom Prozess gesellschaftlicher Wertschöpfung abgehobene Geldblase - DAS ist die wahre Verneinung der Realität. Und das merken sie jetzt langsam."
"Merkt wer?", wunderte ich mich.
"Na, ich nicht", trotzte Stroganow. Er war dann mal weg. In Sphären fortschreitender Verblödung. "Bring mir was Schönes mit, wenn du wiederkommst!", bat ich noch, bevor Stroganows Kiosk das Triebwerk zündete.

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