Lindemann & Stroganow

Als Lindemann einmal von der Zeitung interviewt wurde
Öfter mal abschalten

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Öfter mal abschalten

von Kersten Flenter

Wo steckst du denn?“, echauffiert sich Stroganow, „ich versuch seit Tagen, dich zu erreichen. Du gehst nicht ans Handy und reagierst nicht auf E-Mails.“ „Bin doch zu Hause. Warum kommst du nicht einfach vorbei? Es gibt eine Klingel an der Tür.“ „Leben wir jetzt wieder analog oder was? Das gildet nicht. Ich will dich nicht immer sehen, wenn ich mit dir sprechen muss. Aber wart mal, ich glaube, ich verstehe dich. Du machst ein Experiment, oder?“ „Nein“, sage ich, „ich will nur nicht immer wissen, was los ist. Ich hab zu arbeiten. Da kann ich keine Ablenkung gebrauchen.“ „Du? Arbeiten? Du nimmst mich auf den Arm!“ „Ja.“
Ich weiß gar nicht, was Stroganow will. Schließlich bin ich wie gewohnt am Kiosk und hole mir meine Ration sinnlose Unterhaltung ab. Nur dass ich diesmal gleich wieder heimgehe. „Du kannst dich jetzt nicht drücken“, erklärt Stroganow, „im Dezember kommt eine Menge auf dich zu. Ich hab schon jede Menge Interview-Anfragen. Du wirst polarisieren mit dem was du tust.“ „Ich öffne mein Geschlecht nur dem Mond“, zitierte ich einen verstorbenen Dichterfreund, „und ich geb keine Interviews. Außerdem mach ich Urlaub.“ „Doofkopp“, sagt Stroganow, „gerade dann, wenn es spannend wird.“ „Interviews sind nicht spannend“, erklärte ausnahmsweise ich. „Das ist mir zu pauschal“, erwidert Stroganow, „nur weil der Pöbel das, was in den ARD-Talkshows passiert, mit Interviews verwechselt. Denk an Alexander Kluge.“ „Ich denke täglich an Alexander Kluge“, log ich, „er hat mir beigebracht, dass die entscheidenden Bilder eines Films die kurzen schwarzen Lücken auf der Rolle sind.“ „Und der Rest?“ „Firlefanz, was sonst. Nicht mal Uli Hoeness hat noch Unterhaltungswert, wenn er Pinto anpöbelt.“ „Ah, jetzt ahne ich, wo der Hase pfeffert – du warst gar nicht offline. Du warst nur im Fiasko verschollen, nach dem Sieg gegen Bayern. Das ist billiges Amüsement.“ „Das ist Katharsis“, protestierte ich. Ein Spiel 96 gegen Bayern setzt tief im Inneren verborgene Gefühle frei – Hass, Schadenfreude, Killerinstinkte. Man fühlt sich geradezu gereinigt nach einem solchen Spiel, besonders nach einem Sieg. Ich …“ „Na also“, freut sich Stroganow, „du hast ja doch noch was zu erzählen. Ich mach dann gleich mal das Interview mit Eros & Phlegma klar. Nächste Woche okay?“ „Nee, da habe ich Migräne“, stöhnte ich und zo.

Als Lindemann einmal von der Zeitung interviewt wurde

Von Hans-Jörg Hennecke

Reporter: Herr Lindemann, als Lindener Original haben Sie uns sicher etwas zur Entwicklung des Stadtteils zu sagen …
Lindemann: Seit das Rauchen verboten ist, geht es mit der Lebensfreude steil bergab.
Reporter: Nun, Rauchen ist doch nicht alles im Leben.
Lindemann: Da sitzen dicke Frauen vor ihren Sahnetorten im Cafe und keine Staatsmacht schreitet ein.
Reporter: Halten sie die polizeiliche Präsenz im Stadtteil für unzureichend?
Lindemann: Was die an Arzt und Medikamenten kosten. Dazu werden die uralt, kassieren Renten noch und nöcher.
Reporter: Halten Sie das für unser Lindener Hauptproblem?
Lindemann: Dicke tortenessende Frauen sind keine Randgruppe, damit sollte sich die Politik mal beschäftigen.
Reporter: Stichwort Politik. Sehen Sie das Problem eher in Politik-Verdrossenheit oder handelt es sich mehr um Politiker-Verdrossenheit?
Lindemann: Die können doch heute nicht mehr auf Nachholbedarf für die Hungerjahre nach dem Krieg pochen. Da waren die kaum geboren. Außerdem ist das nach über 60 Jahren wohl verjährt.
Reporter: Es gibt positive Veränderungen in Linden und schon wieder neue Hoffnung für das Ihme-Zentrum...
Lindemann: Linden atmet Historie, hier hat alles Geschichte, nur das Ihme-Zentrum hat keine. Der Bau ist ein Implantat der Moderne und hat mit Linden überhaupt nichts zu tun.
Reporter: Wann würden Sie es denn schätzen?
Lindemann: Wenn man wenigstens sagen könnte, da habe Goethe mal übernachtet oder Marx als Student gewohnt...
Reporter: Sie sollten auch einem Neubau eine Chance geben.
Lindemann: Die sollten ihre Torten im Ihme-
Zentrum essen. Verfall zu Verfall.
Reporter: Denken Sie nur noch an Torten?
Lindemann: An jeder Torte hängt eine übergewichtige Frau.
Reporter: Sind Sie ein Frauenfeind?
Lindemann: Ich bin Tortenfeind.
Reporter: Ein Kindheitstrauma?
Lindemann: Ein Arzt-Trauma. Der Arzt hat mir Torten verboten.
Reporter: Herr Lindemann, wir danken für dieses – äh – Gespräch.
Lindemann: Moment mal, wer sind Sie denn überhaupt? Was wollen Sie?

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