Lindemann & Stroganow

Scheißmonat / R E S E T

Gelesen von Kersten Flenter und Hans-Jörg Hennecke

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Scheißmonat

Von Hans-Jörg Hennecke

Totensonntag, Volkstrauertag und dazu diesiges Wetter, wie gemacht für die bescheuertsten Feiertage des Jahres. Friedhofsbesuch ist angesagt.“ Lindemann schwenkte die Zeitung mit den seitenlangen Todesanzeigen und machte einen insgesamt unfrohen Eindruck.
„Das ist ein Scheißmonat, der November. Man kann sich Opa aber jetzt per Urne ins Regal stellen, der Friedhofszwang geht den Bach ab.“ Nachbar Stokelfranz schien nicht unzufrieden. Er war eben kein Bestatter, denen die fetten Pfründe schon bald in den Hades versickern würden. Lindemann zählte weiter Todesanzeigen aus. Ein roter Kringel für jeden Verblichenen, der jünger als Lindemann in die ewigen Jagdgründe abberufen war. Ihre Zahl wuchs ständig, obwohl dauernd von der Langlebigkeit heutiger Menschen geredet wurde. Die Einschläge kamen also näher und das veranlasste Lindemann zu intensiver Beschäftigung mit dem Unabwendbaren.
Der Tod schaut dich nicht mehr als anonymen Teil einer grauen Masse an, stellte er fest. Er schaut dir direkt ins Gesicht. Was er will, weißt du, denn er hat nur einen Daseinszweck. Was er denkt, befürchtest du. Denkt er wirklich an dich? Oder bleibt da noch Zeit? Wie viel Zeit?
Lindemann führte ein langes Gespräch mit seinem Seelsorger, las im Buch der Bücher und fasste dann seine Forschungsergebnisse zusammen:
Sterben ist das letzte Tabu, das die aufgeklärte Welt des 21. Jahrhunderts übrig ließ. Dabei ist nichts so hundertprozentig sicher, wie unser dereinstiges Ableben. Nur Zeitpunkt und Umstände bleiben lange unabsehbar. Ewiges Leben ist im Diesseits dennoch kein Ticket zur Glückseligkeit, Untote und Vampire fristen ihr Dasein in einer unattraktiven Schattenwelt.
Menschen waren immer sterblich, seit der Herrgott sie einst aus dem Garten Eden vertrieb. Allerdings gestand er Adam und seinen ersten Nachkommen Lebensalter von annähernd tausend Jahren zu, sie blieben dabei jahrhundertelang zeugungsfähig. Gott experimentierte damals noch mit seiner Schöpfung, begrenzte Lebensalter schließlich auf 120 Jahre, um die Menschheit kurz danach wegen Boshaftigkeit ganz auszulöschen, ausgenommen Noah und seinen Clan, dazu das komplette Tierreich, wie jeder weiß. Ob Gott heute noch experimentiert, ist nicht gesichert.
Nachdenklich stimmte Lindemann ein aktuelles Ereignis. Er beobachtete, wie vor dem Nachbarhaus nicht der übliche Benzin-Rasenmäher in Bewegung gesetzt wurde, sondern ein schwarzgekleideter Mann die Sense schwang. War das die hilflose Antwort der Hausverwaltung auf die unverschämten Spritpreise? Ein Rückfall in die technische Steinzeit? Der Mann winkte freundlich und Lindemann grüßte höflich zurück. „Viel Arbeit. Ich komme gelegentlich vorbei. Man sieht sich“, rief der Schwarzgekleidete.

R E S E T

von Kersten Flenter

Stroganow hatte sich mit Mittelschmidt und mir gelangweilt und war auf seiner Flucht davor in der Kneipe gelandet, wo er einer Unterhaltung des dortigen Inventars lauschte. Die fand er interessant genug, um sie mir zu petzen, und ich schicke wieder mal die Gedanken anderer Leute in die Welt. Nun aber.
„Wir müssen weniger werden“, sagte Erdloch, müssen uns von überflüssigen Dingen trennen und überprüfen, inwieweit wir selbst Teil einer Konsumindustrie sind, die uns jeck macht. Lass uns alles, was wir besitzen zur Disposition stellen.“ „Vor dem Ergebnis hab ich aber Angst“, sagte Jutta, „was, wenn wir feststellen, dass wir mit Schuld sind an der Ausbeutung der Natur, an der Versklavung von Arbeitskräften und dem Landraub in der Dritten Welt?“ OB es sich so verhält, ist für mich keine Frage, überlegte Erdloch, ich frage mich mittlerweile nur noch, was wir tun können, um hier wieder rauszukommen, um umzukehren. Wie drücke ich erfolgreich den Reset- Knopf, darum geht es mir! Alles auf Null setzen, nochmal von vorn starten und alles richtig machen. Oder zumindest anders. „Weißt du was? Wir machen da ein Kunstprojekt draus“, sagte Erdloch dann, „ein Happening, einen Event, eine Performance. Das wird groß, gleichzeitig Ausstellung und Theater.“ „Wie stellst du dir das vor?“, wollte Jutta wissen.„Wir tragen unseren kompletten Haushalt auf ein Fußballfeld. Mit Rasenkreide zeichnen wir unsere Wohnung nach. Und die Besucher der Ausstellung müssen rauskriegen, was von unseren Dingen scheiße ist oder weg muss.“ „Beides.“ „Genau.“ „Und wie gehen wir das an? Ist doch ein tierischer Aufwand?“ „Der erste Punkt ist schon erreicht: wir haben die Idee. Zwotens: wir schreiben ein Konzept. Drittens: wir beantragen Fördergelder. Viertens: wir ziehen es durch!“ „Bei erstens bis drittens bin ich ganz bei dir, sagte Jutta, aber was viertens betrifft, habe ich einige Skrupel. Willst du wirklich unseren gesamten Haushalt zur Disposition stellen? Wir haben doch auch Dinge, die wichtig bis notwendig sind.“ „Das denken und sagen wir – aber können wir wirklich allein bestimmen, was notwendig ist? Und darum geht es ja gerade, wir wollen doch überprüfen, was wir wirklich brauchen und wo wir uns mehr oder weniger leicht reduzieren können. Weniger werden!, darum geht es doch, den kapitalistischen Schweinehund in uns überwinden. Dazu brauchen wir die Hilfe unserer Mitmenschen!“ „Unsere Mitmenschen sind Arschlöcher. Die trennen sich doch selbst von nichts und kaufen jeden Scheiß. Ich glaub, so ein Projekt interessiert überhaupt keinen.“„Doch, wir müssen nur Alternativen aufzeigen“, sagte Erdloch. „Aber wie?“, überlegte Jutta, „Konsequenterweise muss dann alles, was politisch unkorrekt produziert wurde, weggeworfen werden.“ „Eben nicht. Es muss nachverwendet werden. Upgecyclet oder so. Nike-Shirts zu Putzlappen!, forderte Erdloch. „High Heels zu Flaschenöffnern!, skandierte Jutta. „Wohnlandschaften zu Leine-Flößen!“ „Spülmaschinen zu Spülmaschinen!“ „Häh?!“
Es geriet den beiden wie immer. Man redete. Miteinander sprechen ging jeder Handlung voraus, und wenn es mal umgedreht war, war es auch richtig. Ein Paar, das so lange beieinander war wie Jutta und Erdloch, war nicht für Veränderungen gemacht, sondern für die Liebe. Und für die Kneipe. Stroganow zahlte, ging und lächelte.

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