Lindemann & Stroganow

Souvenirs aus Linden / Frau Froschhammer wurde 70

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Souvenirs aus Linden

von Kersten Flenter

Stroganow nennt seinen Kiosk jetzt neuerdings „Lindener Souvenirshop“. Nicht dass er irgendetwas anderes verkauft als früher, aber das schnöde Herri geht so noch besser weg. Busladungen voller Linden-Touristen rennen täglich die Kioskluke ein, erstehen noch für 10 Euro einen Wappen-mit-Lindenblatt-Aufkleber und dann sind sie wieder weg. „Opportunist“, beschwere ich mich, „diese Menschen sind Teil unseres Problems.“ „Der Mensch ist gern Teil eines Problems“, erklärt Stroganow. Recht hat er. Ich sah jüngst einen Film im Internet, in dem limmernde Menschen auf der Limmerstraße interviewt wurden. Das Limmern sei schon ein Problem, sagten die Limmernden. Dieser Satz sagt viel mehr als er scheint – ich bin gern Teil eines Problems.
Als Problem bin ich sichtbar und Teil einer Mehrheit, und ich kann prima darüber diskutieren, auf einer Bank sitzend oder in der Kneipe. Aber um Lösungen wird sich schon irgendwer anders kümmern. Gut, dass wir so offen drüber reden können. Beispiele gefällig? Alle jammern über die Schweinebanken, sind aber zu bequem, mit ihren eigenen Konten zu einem seriösen Institut umzuziehen (es gibt tatsächlich zwei oder drei, bei denen die Geldanlagen nicht weniger rentabel, aber sauber sind. Schnöde Gier ist also nicht mal hier eine Ausrede!) Wir meckern über Benzinpreise und fahren weiter Auto. Wir protestieren gegen den Ausbau von Flughäfen, aber wir schauen wieder im Internet nach dem nächsten Flugreiseschnäppchen. Im Herzen sind wir anständig, aber wir wollen die Umsetzung unserer ethischen Ansprüche umsonst und von jemand anderem organisiert bekommen. Und vor allem schauen wir zuerst mal auf die anderen - „es nützt nichts, hier die Kernkraftwerke abzuschalten, wenn sie in Frankreich weiterlaufen“, oder es heißt „too big to fail“ … Systemrelevanz ist das Unwort des letzten Jahrzehnts.
Was ist nun aber mit Lösungen? Harald Welzer, ehemals Professor am Institut für Kulturwissenschaft in Essen, schmiss seine Professur aus Protest gegen die unsägliche Verwirtschaftlichung der Studiengänge hin. Er gründete eine Stiftung und betreibt die Webseite futurzwei.org. Dort erzählt er Geschichten von Menschen, die es anders machen –das geht nämlich, vielerorts, mit lokalen Aktivitäten, mit den durchaus positiven Seiten des technischen Fortschritts, mit Kreativität und Netzwerkgedanken. Aber leider interessieren solche Dinge keine Sau, denn nach uns kommt immer noch die Sintflut, auch bei denjenigen von uns, die Eltern sind, und auch bei denjenigen von uns, die mit dem Christentum nichts am Hut haben. Dabei lohnt es sich manchmal, sogar dort genauer hinzuschauen. Denn schon in der Bibel heißt es genau genommen nicht, wir MÜSSEN oder wir SOLLEN die Sünde besiegen – es heißt, wir KÖNNEN. Wir müssen nicht einmal eigene Lösungen finden, wir können sogar auf welche zurück greifen, die es schon gibt. „Alles könnte anders sein“, war das Motto eines verstorbenen Bekannten von mir, den die Welt besiegt hat. Aber wir bleiben lieber Teil des Problems.
„Hör endlich auf zu dozieren“, mahnt Stroganow, „da kommt ne neue Busladung Touristen. Die wollen wir doch nicht verprellen!“ „Nein“, sage ich, „das wollen wir nicht.“

Frau Froschhammer wurde 70

Von Hans-Jörg Hennecke

Alles riecht nach Herbst, Blätter fallen unkontrolliert auf Gehwege und Autostraßen.Verantwortlich ist natürlich mal wieder keiner. Typisch Linden, hämen die Nachbarn aus Hannover. Lindemann spürt den Modergeruch. So riecht verfallendes organisches Material. Es riecht nach Alter, nach Überdauer, nach Friedhof. In seinem Umfeld ist ein guter Bekannter jüngst 70 Jahre alt geworden. Lebend. 70! Nachbar Stokelfranz bestritt stantepede, dass man überhaupt so alt werden kann. Bestenfalls als Schildkröte.
Lindemann verweist auf die Bibel: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es 80 Jahre.“
Stokelfranz staunt. „Das wird ja immer doller. Das ist doch mindestens Pflegestufe 3.“ Lindemann grinst und liest ihm den Rest der himmlischen Offenbarung vor: „… und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“
Der Nachbar zieht die Stirn in Falten. Tiefe Furchen deuten an, wie das Alter den Menschen verunstalten kann. Mühsam stöhnt er: „Das steht da nicht wirklich?“ Lindemann zeigt den unabweisbaren Text. Stokelfranz schüttelt energisch den Kopf. „Dann nicht. Dann überlassen wir das den Schildkröten. Mühe und Arbeit – das lohnt sich doch überhaupt nicht. Altersarmut ist für die Mühseligen angesagt. Mini-Rente, Hungertuch.
Und das soll schön gewesen sein?“ Lindemann klärt auf, dass dieses Elend in vollem Umfang erst die nächste Generation trifft. Sein 70-jähriger Bekannter könne sich neben Wohnung und Nahrungsmitteln durchaus noch Bier und Tabak leisten. Stokelfranz ist unfroh. „Aber das ist doch kein Leben mehr. Der braucht doch eine Altenpflegerin, die ihm das Bier per Schnabeltasse einführt. 70, da ist das Haltbarkeitsdatum abgelaufen, selbst wenn der Inhaltnoch genießbarsein sollte. 70 – das ist die Quadratur des Kreises.“
Oma Kasten aus dem ersten Stock springt auf das Stichwort an. „Genau, das habe ich der Frau Froschhammer kürzlich auch gesagt, die ist nämlich 70 geworden. Mit 70 haben wir früher nicht mal die Adresse eines Arztes gekannt. Da haben wir die Wohnung tapeziert – und die von der Nachbarin gleich mit. Ich bin 80. Und wer über Alter redet, sollte mindestens 80 sein.“ Stokelfranz wagt eine Verständnisfrage. „Langes Leben, lange Arbeit, ist das nicht mühselig?“ Oma Kasten stutzt. „Worüber sprachen wir gerade? Ach ja, Frau Froschhammer ist 70. Und 70 ist gar nichts. Merken Sie sich das, junger Mann. Das kriegen sogar Sie als Raucher hin.“

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