Lindemann & Stroganow

Brände werden nicht gelöscht! / Das Rülpsen der Seeanemone

Gelesen von Kersten Flenter und Hans-Jörg Hennecke

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Brände werden nicht gelöscht!

Von Hans-Jörg Hennecke


„Fußball“, stöhnte Lindemann, „überall und immer nur Fußball, seit die Wahl vorbei ist. Egal welchen Kanal ich einschalte, ob ich ins Internet gehe oder die Taste am Toaster drücke: Fußball. Ich traue mich gar nicht mehr, das Bügeleisen anzumachen...“ Nachbar Stokelfranz grinste. „Ist eben gefragt. Mehr als Hansi Hinterseers Volksmusik, die wird ihresgleichen jetzt auch noch gestrichen. Allein Fußball bringt Quote.“
„Nicht überall“, widersprach Lindemann. „ Es gibt vernünftige Leute, die haben sich vom Fußball verabschiedet.“ „Ach nee, wer denn? Da bin ich aber mal gespannt.“
Lindemann schob mit Genugtuung die Daumen unter seine Hosenträger. „Da ist ein ganzer Verein, der sich vom Fußball losgesagt hat, hier in Linden. Der Fußballverein 1897 an der Stammestraße. Die haben nur ein halbes Jahr Fußball gespielt und sind dann zum Rugby gewechselt.“ Stokelfranz schüttelte entschieden den Kopf. „97 war immer Rugby, die waren sogar ein paar Mal Deutscher Meister“. „Irrtum, die heißen heute noch Fußballverein 1897, haben aber eine Unterzeile dazu gesetzt: 'Fußball wird nicht gespielt'. Was sagen Sie nun?“
„Nun ja, der 'witte' Westen-Club. Die sind früher alle mit weißen Westen rum gelaufen. Vornehm, und das in Linden. Aber mal ehrlich, Meister Lindemann, ist das nicht etwa wie ein Aushang in der Kneipe: Bier und Korn werden nicht ausgeschenkt? Oder die Feuerwehr teilt mit: Brände werden nicht gelöscht?“ Lindemann gedachte nicht, in diese verbale Falle zu laufen. Er hatte noch genügend Trümpfe. „Real Madrid hat 100 Millionen für einen Spieler gezahlt, das ist doch pervers. Und er bekommt im Jahr 10 Millionen Euro Löhnung!“
Stokelfranz nickte versonnen. „Der konkurriert nicht mit meinen Hartz 4. Was meinen Sie, was der für Steuern zahlt?““Gar keine, wenn er sich in einer Steuer-Oase einbürgern lässt.“
Oma Kasten aus dem ersten Stock betrat die Szene und mischte sich unverzüglich sachkundig ein. „Ich zahle auch keine Steuern, weil meine Rente unter dem Existenzminimum liegt.“ Stokelfranz winkte ab. „Sie zahlen noch genug Steuern, Mehrwertsteuer auf alle Waren, Tabaksteuer – nein, die zahlen Sie wohl eher nicht. Im übrigen: Wenn der Staat dem Mann 5 Millionen als Steuern abnimmt, landen die doch nicht beim bedürftigen Hartz 4-ler, sondern beim unfähigen Banker, der seinen Laden in die Pleite geigt. Da blickt doch keiner mehr durch.“ Lindemann war unzufrieden. „Beim Fußball auch nicht. Sorgen Sie doch lieber mal dafür, daß eine Abseitsregel gilt, die jeder verstehen kann.“ Oma Kasten nickte und verblüffte die Männer: „Ich verstehe die Abseitsregel!“ „Tatsächlich“, fragte Lindemann ungläubig. „Abseits ist“, verkündete die Nachbarin, „wenn der Schiedsrichter Abseits pfeift.“ Stokelfranz war ergriffen. „Dem ist nichts hinzuzufügen.“

Das Rülpsen der Seeanemone

von Kersten Flenter

Es gibt zwei Überlebensstrategien in diesen Tagen: entweder man schaltet die Glotze komplett aus, oder man gibt es sich richtig. Ich habe die Messe genutzt und mir gleich vier 4K-Fernseher gekauft, jeweils 2 Meter 13 breit, zu je 19.000 Euro, und die hängen jetzt an allen vier Wänden meines Schlafzimmers; in einem läuft durchgehend N24, im zweiten Tagesschau 24, im dritten das Promi-Big Brother und mit dem vierten bin ich auf Facebook. Das ziehe ich bis zur nächsten Bundestagswahl gnadenlos durch, und dann geh ich raus und wähl die FDP. Soweit der Plan. Leider bekomme ich Besuch von Stroganow und Bülent Mittelschmidt und werde abgelenkt.
„Sag nichts!“, befehle ich Mittelschmidt, aber er missachtet mich. “Muss man sich nicht drüber wundern, wenn man Wahlplakate druckt, die nichts anderes aussagen als Ich wohn noch bei Mutti.“ „Genau“, pflichtet Stroganow ihm bei, „mich nervt nur, dass in dem Fall bundesweit das Wahlverhalten der Lindener kopiert wurde und in anderen Fällen nicht.“ „Auf der Webseite von Bernie Krause kann man die Klänge der Wildnis hören“, sage ich, „das Singen der Schaufelfußkröten und das Rülpsen der Seeanemone.“ „Knorke“, sagt Stroganow, aber die Reduktion auf den Gehörsinn bringt es auch nicht. Die CDU hat auf ihrer Wahlparty die Toten Hosen gesungen. Das war irgendwie eklig.“ „Campino würde sich im Grab umdrehen“, sage ich, „aber trotzdem, die visuellen Ankündigungen von vier weiteren Jahren inhaltsloser … äh … wie sagt man?“ „Sie nennen es Politik“, sagt Mittelschmidt. „Danke sage ich.“ Und wieder stellen sich uns Fragen: Wer macht sowas? Wer hatte im Deutschland des 21. Jahrhunderts eine solch schwierige Kindheit, dass er dermaßen zynisch wurde? Wo ist das gute alte Wort „Anstand“ geblieben? So rächt sich also das Prekariat, das ist unsere Quittung für zwanzig Jahre unbezahlte Praktika in Medienberufen: Wahlplakate! Die Grafiker, die das verbockt haben, sind in ihrem Job für alle Zeiten verbrannt, genauso wie der Fotograf, und der Plakatkleber, und der Typ, der den Klebstoff dafür angerührt hat, und das Ross das die Borsten für den Quast lieferte auch, und die Montagsfrühschicht bei VW, die den Passat gebaut hat, in dem die Plakate transportiert wurden, die Typen, die den Teer auf die Straße brachten, auf dem das Auto fuhr. Und der Herrgott, der mir die Augen gab, das Elend betrachten zu müssen.
„Zappa sagte, Politik ist die Unterhaltungsabteilung der Rüstungsindustrie“, erklärt Stroganow. „So einfach ist das nicht“, finde ich, „des Finanzkapitalismus‘ träfe es wohl heute eher.“ „Nochmal vier Jahre Merkel und die Anderen“, seufzt Mittelschmidt, „dafür haben wir die Nazis neulich nicht aus Linden gerappt.“ „Erinnere mich nicht daran! Wenn ich daran denke, dass mit meinem eigenen Geld Polizisten bezahlt wurden, um die Pappnasen vor mir zu schützen – das ist so paradox!“ „Du musst das anders sehen“, erklärt Stroganow, „so kamen wir wenigstens mal wieder alle zusammen und waren uns einig, wie wir es jetzt nach der Wahl sind. Das hat sich schön warm angefühlt.“ Ach, denke ich, es gibt schönere Anlässe dafür, eigentlich für alles.

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