Lindemann & Stroganow

Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

„Ich lese nichts!“

von Hans-Jörg Hennecke

„Manche Hähne glauben, dass die Sonne ihretwegen aufgeht.“ Das hat Frau Merkel über Herrn Westerwelle gesagt, vermutet Nachbar Stokelfranz. Weit gefehlt, Lindemann weiß es besser, denn er liest gute Bücher. Theodor Fontane kannte mangels Fernsehen Herrn Westerwelle nicht, aber den Spruch hat er in die Gegend gestellt. Lindemann freut sich darüber. Andere freuen sich über neuzeitliche „Comedians“. Zum Beispiel Mario Barth („Das ist mein Laden“) oder Hella von Sinnen („Ich fotografiere alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“) Lindemann kann über die traurigen Gestalten im Privatfernsehen nur müde grinsen. Aber er gönnt anderen die Freude am einfach gehäkelten Kalauer. So seinem Nachbarn Stokelfranz. Wer von Hartz IV lebt, kann sich keine teuren Gedanken leisten, meint der. Ein Besuch in der Stadtbücherei würde ihn eines besseren belehren. Dort gibt es die guten Bücher, und als Garnierung natürlich einige schlechte dazu.
Und wer liest sie? Der bekannte Getränkegroßhändler Horst K. aus H. (Name und Ort sind nicht nur Lindemann bekannt) jedenfalls nicht. Der bekannte schon vor Jahren: „Ich lese nichts – außer meinen Kontoauszügen.“ Anlass seiner Aussage war der Tag des Buches, der sinnigerweise gleichzeitig Tag des Bieres ist. Einem anonymen BILD-Redakteur wurde gar das Zitat zugeordnet: „Das bisschen was ich lese, schreibe ich mir selber.“
Der Mensch wundert sich, dass trotzdem noch Bücher gedruckt werden, und gar nicht wenige. In Deutschland erscheinen jährlich 80.000 Buchtitel. Die Auflagen sind zumeist winzig, aber irgendwie muss es sich doch rechnen. Die großen Renner sind selten, aber sie bewegen zuweilen sogar die Generation, die angeblich außer Internet und Playstation modernem Analphabetentum frönt. Harry Potter – die dickleibigen Bücher veranlassten zahllose Kids, nächtens vor den Buchhandlungen auf den jeweils neuesten Band zu warten. Und sie haben ihn dann verschlungen, das ist belegt. Von Harry Potter zu Theodor Fontane mag es ein weiter Weg sein, aber es gibt diesen Weg, weiß Lindemann. Wichtig ist, so hat er gelesen, dass man Kindern schon frühzeitig aus Büchern vorliest. Das setzt natürlich voraus, dass man Kinder hat. Und daran mangelt es den Deutschen. Gründe gibt es viele. Einer fiel Lindemann auf. Sie mißtrauen der Familie, seit sie Alfred Hitchcocks filmische Spannungsbögen lieben lernten. Der berühmte Cineast meinte: „Alle schlechten Eigenschaften entwickeln sich in der Familie. Das fängt mit Mord an und geht über Betrug und Trunksucht bis zum Rauchen.“ Schlechte Eigenschaften soll man eben nicht leben sondern lesen. Wie gut sind da doch die Lindenspiegel-Leser dran, denkt Lindemann. Die haben immer ihre letzte Seite.

Ungenutztes Potential und so

von Kersten Flenter

„Igitt, ich bin schon wieder in einen iPad-Akku getreten“, meckerte Stroganow, und ich wachte schweißgebadet aus meinem bösen Traum auf. Das Leben im 21. Jahrhundert ist bekanntermaßen eines der härtesten. Obwohl sich der Niedergang der menschlichen Rasse vor allem in der Niveaulosigkeit seiner Kommunikationsmittel zeigt und es für die Makler unseres Geldes immer schwieriger wird, einen sinnfreien Verschwendungszweck dafür zu finden, erreichen uns doch immer wieder Nachrichten, die das analoge Leben als echt haptisches Erlebnis präsentieren. „Ein Tag am Fluss“ nannte sich ein Event, welches jüngst in Linden-Süd stattfand und den Zweck hatte, die Einwohner des Stadtteils darauf aufmerksam zu machen, dass es hinter der Hautklinik an der Ihme ein Stück Grünfläche gibt. Ein brachliegendes Stück Natur, verdammt, welches da eventlos verkümmerte und angeblich nur von Entenküken, Gebüsch und Naturschützern mit Uferbetretungsrecht (im Volksmund auch als Angler bezeichnet) genutzt würde. Von bislang ungenutztem Potential war da die Rede, und um mal zu gucken, wie Gentrifizierung endlich nach Linden-Süd Einzug erhalten könnte, ließ man mal die Studenten der Landschaftsarchitektur ran. Und die machten sich dann so ihre Entwürfe zur zeitgemäßen Nutzung des Areals.
Herausgekommen sind größtenteils deckungsgleiche Konzepte aus dem Gentrifizierungstunnelblick – die bislang ruhig daliegende Flusslandschaft mit ihrer friedlichen Uferfauna und -flora soll sich dem Stadtteil öffnen (bislang waren die Lindener zu doof, um zu bemerken, dass man zwischen Legionsbrücke und Schwarzer Bär auch spazieren gehen kann), Natur soll gerahmt, in Terrassen und Stege gepresst werden, damit die modernen Performer genüsslich beim Cocktail ihre Liegestühle ans Ufer stellen und diejenigen vertreiben können, die nämlich jetzt schon das Ufer bevölkern, aber nicht so recht ins moderne Stadtbild passen wollen: Junkies, Alkies, Nachmittagsparkbankkopulierer, Hundebesitzer, Spaziergänger, all dies subversive Gesocks muss weiter stadtauswärts getrieben werden, damit die bildungsnahen Neu-Lindener mehr Platz zum Loungen haben. Vorbei die Zeit der Hundehaufen, gefüllten Kondome und Amphetaminzäpfchenpackungen in den Mülleimern am Junkie-Ufer, stattdessen weggeworfene Beck’s-Holunder-Flaschen und leergelesene Ausgaben von „Meine Patchworkfamilie und ich“. Caipi in der Hand und „Das wird man ja wohl mal tabufrei diskutieren dürfen“-Floskeln hinter’m Furunkelschnitttempel der Hautklinik: „Also, so ein bisschen muss ich dem Sarrazin ja doch recht geben …“ „Also ich weiß nicht …“ Der Name Sarrazin bedeutet übrigens „der im Land der Sarazenen gelebt hat“, mit „Sarazenen“ wiederum bezeichnen die Christen seit dem 7. Jahrhundert schlicht vereinfachend die Muslime. Alles klar? Den Rest könnt Ihr nachlesen. Ihr lest doch so gern. Am liebsten Banknoten.

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