Lindemann & Stroganow

Oasen suchen sich die Karawanen nicht aus / Oh, Limmerstrasseee

Gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden und Spvgg Linden-Nord

Oasen suchen sich die Karawanen nicht aus

von Kersten Flenter

Bülent Mittelschmidt saß abends auf den Treppen vorm Radkontakt und betrachtete die zwanzig Zentimeter zwischen seinen Füßen. Interessant, die eigene kleine Welt. Ich kam auf meinem Weg von dem Kiosk vorbei, mit dem ich Stroganow ab und an betrog, aus lauter Jux und Dollerei, und weil er nun mal näher an meiner Wohnung ist. „Machtst’n da, Mittelschmidt?“ „Ungern“, sagte Mittelschmidt, und ich begriff: „Du erschaffst einen neuen Kiez, damit die Limmerstraße wieder befreit und die armen Punks und Berber nicht mehr von übereifrigen Hilfsstreetworkern belästigt werden?“ „Exakt. Einer muss ja anfangen.“ Stroganow bog um die Ecke. Ich verbarg mein Fremdherri zwischen Mittelschmidts Füßen. „Na?“, skandierten Mittelschmidt und ich, und Bülent fügte hinzu: „Wo kommst du denn her?“ „Vom Otto-Welsen“, erklärte Stroganow. Ach, diese stillschweigende Übereinkunft und Trendfühligkeit! Mittelschmidt hatte meine volle Unterstützung – ich war wie er der Auffassung, dass sich das Limmern dieser Tage erledigen würde, weil der Zenit der medialen Aufmerksamkeit erreicht war. Selbst eine Linden-Stadtführung gab es mittlerweile – 29 Euro Gebühr für ein ein bisschen Touristengucken auf der Limmerstraße, Halbliterflasche Bier inklusive. Herr, lass Spott vom Himmel regnen! Mögen all die Nord- und Südstädter weiterziehen, die Gentrifizierungskarawane und ihre Kamele mit Becksbierhöckern mögen weiter gen Westen ziehen, hinter Limmer kommt Ahlem, und dann immer weiter, dann wird gelettert und geseelzt und gelohndet und geluhtet, und …“ „… irgendwann tanzen sie dann ins Meer!“, freute sich Mittelschmidt. „Gemach“, gebot Stroganow, „wir wollen die Dinge nicht unnötig verkomplizieren. Die Limmerstraßen-Partypeople mit dem Modewort zu denunzieren, scheint mir risky.“ „Dann erklär ich DIR das ausnahmsweise mal, Stroganow“, sagte ich. „Was hier vorgeht, ist nämlich Gentrification- Grundschule – nur nistet sich hier die Szene nicht leise und nach und nach ein, sondern lauthals und ignorant den Bewohnern gegenüber. Damit wird der nächste Schritt, nämlich die Aneignung von Wohnraum durch Spekulanten, sogar übergangen, und die Einwohner flüchten nicht vor den teuren Mieten, sondern gleich vor der Szene.“
„Aber das ist doch toll“, meinte Stroganow, „so bleiben die Spekulanten außen vor.“ „Und die Mieten werden nicht steigen, sondern sinken“, fügte Mittelschmidt hinzu, „weil man die Wohnungen auf der Limmer nicht mehr vermietet bekommt.“ „Entgentrifizierung, quasi“, erklärte Stroganow. Ich seufzte. „Also, ich bleibe dabei und setze auf Selbstregulierung“, fürchtete ich mich vor mir selbst, „wenn eine Subkultur im Establishment angekommen ist, und das Limmern ist nunmal spießiges Modeentertainment, dann kommt woanders schon was Neues.“ „Na, dann bleib ich doch am besten gleich hier sitzen“, lächelte Mittelschmidt. „Nee“, sagte Stroganow, „am besten ziehen wir jetzt schon mal weiter, bevor das Ungern richtig in Mode gekommen ist.“

Oh, Limmerstrasseee

Von Hans-Jörg Hennecke

Lärm in Linden, Limmern auf der Limmerstraße, Leichen im Pappkarton – so erscheint unser Stadtteil in der Zeitung.“
Lindemann schüttelte entnervt den Kopf, doch Nachbar Stokelfranz nickte zufrieden. „Das spart die nächste Mieterhöhung. Wer will denn in einer Gegend leben, wo Kriminalität die Regeln der Nachbarschaft bestimmt? Das wendet die Gefahr der Schickimickisierung Lindens ab.“
Lindemann war nicht überzeugt. „Aber es stimmt doch nicht. So ist unser Stadtteil nicht.“
„Na und?“ Stokelfranz schien zufrieden. „Die Leiche im Karton war immerhin echt. Damit wird doch nur deutlich, dass der Bergfriedhof endlich wieder geöffnet werden muss. Ansonsten: Wie gut Linden ist, weiß jeder Insider. Und für die anderen ist das Bild von der Bronx nicht schlecht. Soll die Nordstadt angesagt sein, oder die List. Die Mieter zahlen das in barer Münze.“
Oma Kasten aus dem ersten Stock hatte ein anderes Bild von der Welt. Ihre Hörgeräte waren nicht auf dem neuesten Stand, was kein objektives Maß in Sachen Schallwellen im Stadtteil zuließ. Nach 18 Uhr besuchte sie die Geschäfte an der Limmerstrasse nicht mehr, gelimmert wird erst später. Und Leichen im Pappkarton waren ihr gruselig wie das nächtliche Fernsehprogramm der Privaten, sie schaute einfach nicht hin. Kriminalität? Der nette Kontaktbeamte von der Polizei, der kürzlich im Seniorenclub referierte, würde so etwas gar nicht zulassen, davon war die alte Dame überzeugt.
In der Lindener Parallelwelt marschierte eine Spielvereinigung Linden-Nord auf, die den Ohrwurm „Oh, Limmerstrasseee“ über ein begeistertes und zumeist junges Volk tönte. „Vom schönen Küchengartenplatz“, hieß es da, „bis hin zum Café les ersatz: Durchgeknallte überall. Oh, Limmerstrasseee.“ „Grausig“, kommentierte Lindemann. „Wundervoll“, schwärmte Nachbar Stokelfranz. Damit war die Lindener Seele mal wieder versöhnt. Für Misstöne sorgte nur die Städtische Verwaltung. Der Umbau des Lindener Rathauses zum Bildungszentrum für bildungshungrige Lindener würde anderthalb Millionen teurer als er im teuersten Fall angeblich kosten durfte. Durchgeknallte überall? Stokelfranz schwante Unheil: „Da der Bau erst in zwei Jahren fertig wird, dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.“ Lindemann suchte einzulenken. „Die Vermittlung von Klugheit ist eben teuer. Da darf man nicht mit dem Euro knickern. Bedenken Sie: Das Limmern in der Limmerstraße ist kein Ausdruck von Klugheit.“ Stokelfranz grinste. „Da bin ich mir nicht sicher. Ich halte es mit Tucholsky. Der hat gewusst: ‚Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger‘.“ Lindemann war erstaunt. „Woher kennen Sie Tucholsky?“ „Von meinem Kalender. Da ist täglich ein guter Spruch abgedruckt. Ich brauche kein sauteures Bildungszentrum.“

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