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Zwei Lindener erklären die Welt

Die Geschichten von Lindemann & Stroganow
gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter.

Video: Christine Kraatz-Risch - Musik: Wohnraumhelden

Vorsicht! Komma!

Von Hans-Jörg Hennecke

Viele wähnen das Komma als Mauerblümchen der deutschen Grammatik. Zumal seit der Rechtschreibreform nicht mehr auf allgemein gültige Standards beharrt wird. Man darf das Komma weitgehends setzen, wo man möchte. Das kann dann allerdings geradewegs in die Katastrophe führen. Beispiele gibt es viele.
Da sind die ehrenwerten Politiker, deren Sinnen und Trachten nur darauf beruht, die Wohlfahrt unseres Volkes zu mehren. Der Politiker denkt an sich selbst zuletzt. Bravo, so soll der Mann in Berlin sein. Was aber, wenn man ihm ein kleines Kommazeichen untermischt? Der Politiker denkt an sich, selbst zuletzt. Ja, so kennen wir ihn schon eher. Herr Raffke lässt grüßen, entlarvt von einem lächerlichen Kommastrich.
Ein anderer Fall. Da soll ein altwehrwürdiges Gebäude gesprengt werden. Doch im allerletzten Moment kommen dem Regierungschef Skrupel. Er möchte nun doch nicht das Unumkehrbare verantworten. Also läßt er eine neue Anweisung an den Sprengmeister eiligst durchgeben. Wartet, nicht sprengen! Doch seine Sekretärin hat ihr Metier nach der Rechtschreibreform erlernt. Ein Komma will sie unterbringen, es scheint ihr einfach dazu zu gehören. Also schreibt sie: Wartet nicht, sprengen!
Das Ergebnis kann niemanden überraschen. Das alte Schloß gehört dank eines Kommas der vollendeten Vergangenheit an.
Persönlich besonders gefährlich sind Geldbeträge, die durch Kommazeichen qualifiziert werden. 10,00 Euro – alles klar! Lassen wir das Komma aussen vor: 1000 Euro – auch klar, aber wohl eine andere Gehaltsgruppe. Wehe, wer hier das Komma schmäht, Armut könnte die fatale Folge sein.
Manchmal geht es auch bis zur Vorbereitung zum Mord. Wir essen jetzt, Fritz. Eine klare Information oder Einladung an Fritz. Was aber, wenn das Komma fehl? Wir essen jetzt Fritz. Hier könnte es sich um Kannibalismus handeln, zumindest um die Ankündigung von Mord.
Vorsicht auch beim Zwischenmenschlichen. Im Liebesleben ist die Frage von Bedeutung: Was willlst du schon wieder? Das Komma macht den Unterschied: „Was, willst du schon wieder? In beiden Fällen ist alles klar, aber die Unterschiede sind dennoch unübersehbar. Schlußfolgerung: Das Komma ist ein Damoklesschwert, es hängt über Gerechten und Ungerechten. Dabei kann es tödliche Wirkung haben. Also aufgepasst: mit Kommas scherzt man nicht. Man setzt sie mit Weisheit. Wenn das Schwert dennoch fällt, wenden Sie sich vertrauensvoll an den Herrn Damokles. Oder den Herrn Duden. Der weiß nicht nur alles, der weiß alles besser.

Stroganows Lament

von Kersten Flenter

In früher Zeit, als das Trinken noch geholfen hat, geschah es manchmal, dass ich mich beim Zigarettenholen verlief, aber nie all zu weit, denn es gab Grenzen in Europa, an denen man seinen Personal- oder sogar Reisepass vorzeigen musste, und es kam vor, dass ich den Pass beim Zigarettenholen nicht dabei hatte. Ich gehe wieder öfter Zigarettenholen in den letzten Jahren, und ich nehme immer meinen Ausweis mit, weil das Zigarettenholen an sich ein sehr komplizierter technischer Vorgang geworden ist, für den man noch dazu einen Ausweis braucht, während man fast alle Grenzen Europas ohne passieren kann. Und es ist gut, sich noch ein wenig in Europa herumzutreiben, bevor es explodiert. Vorsorglich trage ich überall mein T-Shirt mit dem Aufdruck „YES I AM GERMAN, BUT I HATE MERKEL, TOO“, und meistens passiert mir so auch nichts.
Ich schäme mich. Dabei ist es doch schön, Deutscher zu sein im 21. Jahrhundert. Wir müssen nicht mehr die Panzer rollen lassen, wir haben die Deutsche Bank und die BASF, und alle 14 Minuten stirbt irgendwo auf der Welt ein Mensch durch eine Waffe von Heckler & Koch. Die Kohle ist uns heilig, der Himmel ist uns egal. Wir exportieren unser Rentensystem nach Resteuropa, gemeinsam mit unserem Zynismus und unserer Arroganz, auf dass man uns hasst, verachtet, verlacht.
Wenn alles den Bach heruntergeht, wir werden die letzten sein, die es betrifft. Wir sind sicher, hier in der Mitte Deutschlands, vielleicht wird Lehrte mal von einem Hagelsturm überrascht, aber nicht Linden- Nord, und wenn die Erde bebt, kommt das höchstens von den Fracking-Versuchen, die sie heimlich durchführen. Ich stolpere hindurch und nehme Abschied von Europa. Die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die wir haben, ist die Freiheit, in jedem hintersten Winkel Europas nur noch Becksbierplörre serviert zu bekommen und mit einem 100 Englisch-Vokabeln-Wortschatz zu kommunizieren. Wir sind zu bequem, um Unterschiede aushalten zu können, und wir verlieren den Zauber der Buchstabenklänge fremder Sprachen, die Neugier auf wilde, exotische Geschmäcker und Gerüche. Wir entwickeln uns zurück und zurück und zurück. Vielleicht ist das der richtige Weg. Ich, der westliche Mensch, fange jetzt mal an, mich auf die lange Reise zurück zu meinen Ursprüngen machen. Also, wenn du meinen Personalausweis im Schlitz eines Zigarettenautomaten am Cabo da Roca findest, in Portugal, da wo das Land zu Ende ist, dann bin ich vielleicht schon wieder ein Fisch im Meer.


Die Bücher von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter gibt es im örtlichen Buchhandel, im Theater am Küchengarten oder Online bei www.limetrees.de zu kaufen.

Erklärt Stroganow
Totenruhe



Hart am Wasser gebraut
Lindemann



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